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Lektüre hilft pädagogisch

Broschüre gibt Tipps, wenn Lehrer an Grenzen stoßen

Von Peter Monke (Text und Foto)
Brackwede (WB). Etwa 140 000 Schüler erleiden jedes Jahr allein in Westfalen-Lippe einen Unfall in der Schule. Oft sind diese durch Situationen bedingt, in denen Lehrer an ihre pädagogischen Grenzen stoßen. Eine neue Broschüre, die gestern in der Brackweder Förderschule »Am Lönkert« vorgestellt wurde, soll hier künftig für mehr Handlungssicherheit bei den Pädagogen sorgen.

Hintergrund dieser Maßnahme ist die Beobachtung, dass »die soziale und emotionale Entwicklung vieler Kinder immer stärkere Defizite aufweist«, sagt Siegfried Lieske, Förderschul-Dezernent der Bezirksregierung Detmold. Da viele dieser Jungen und Mädchen an Förderschulen unterrichtet würden, sei die Broschüre vor allem auf deren Belange ausgerichtet. »Es haben aber auch schon zahlreiche Grundschulen und Kindergärten Interesse an dem Thema signalisiert.«
Denn die Probleme sind unabhängig von der Schulform vielerorts gleich: Kinder werden gegen sich selbst oder andere aggressiv, stören massiv den Unterricht - indem sie zum Beispiel Arbeitsmaterialien durch die Klasse werfen - oder bringen unerlaubte Gegenstände wie Feuerzeuge oder Handys in die Schule mit.
Sind alle Möglichkeiten der verbalen Einflussnahme vom Blickkontakt bis zur direkten Ansprache ohne Erfolg ausgeschöpft, wissen Lehrer oft nicht mehr weiter. »Es gibt Tabus, die dazu führen, dass Lehrer nicht wissen, wie weit sie in kritischen Situationen gehen können«, sagt Lieske. Ist körperliche Nähe erlaubt? Darf ich einem Kind unerlaubte Gegenstände vorübergehend wegnehmen? Nur zwei von vielen Fragen, mit denen sich Pädagogen täglich auseinandersetzen müssen.
»Ja«, sagt in beiden Fällen Ralph Becker, der als Jurist an der Broschüre beteiligt war. »Körperlicher Kontakt kann zwingend notwendig sein, wenn ein Schüler sich selbst oder andere gefährdet oder nur über diesen Weg eine schwere Sachbeschädigung zu verhindern ist.« Ebenso sei es legitim und nicht etwa Diebstahl oder Nötigung, einem Schüler sein Handy für die Zeit des Unterrichts wegzunehmen.
»Wichtig ist, dass ein Lehrer sein Verhalten ankündigt und erläutert«, sagt Dr. Paolo Picciolo, ehemaliger Leiter der Schule »Am Lönkert« und nun in der Stiftung Bielefelder Förderschulen aktiv. »Natürlich sollen Kinder schonend und liebevoll behandelt werden«, ergänzt Becker. Dies könne zum Beispiel bedeuten, dass ein aggressiver Schüler von zwei Lehrern zur Beruhigung aus der Klasse gebracht werde.
Generell wird viel Wert auf Kommunikation und Zusammenarbeit zwischen Eltern, Lehrern und Schule gelegt. Schlagworte wie Offenheit, Vertrauen und De-Eskalation stehen im Mittelpunkt. An der Schule »Am Lönkert« funktioniert dies über wöchentliche Treffs aller Lehrer, bei denen die aktuelle Situation in den Klassen besprochen wird.
»Unser Ziel ist, dass jeder Lehrer jeden Schüler in seinen Grundzügen kennt«, sagt Schulleiter Werner Meyer-Suek. »Denn nur wenn wir uns nicht mehr über ÝmeineÜ und ÝdeineÜ sondern über ÝunsereÜ Klassen und Schüler definieren, ist gegenseitige Hilfe in Grenzsituationen möglich.«

Artikel vom 08.05.2007