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Arznei für Verbrechensopfer zu teuer

Arbeiter stürzt nach Mordanschlag in ätzende Lauge - Behörde ermittelt im Fleischwerk

Von Christian Althoff
Rheda-Wiedenbrück (WB). Die Stichwunden an seinem Hals sind verheilt, aber die schweren Veräztungen seiner Haut werden ihn noch lange quälen. John A. (35) ist Opfer eines Mordversuchs - und bekommt trotzdem nicht die optimale medizinische Versorgung.
Rainer Middelstaedt (71) vom »Weißen Ring« betreut das Verbrechensopfer.
Der hagere Mann hat Angst. Er blickt misstrauisch und möchte sich nicht fotografieren lassen. »Ich fürchte weiter um mein Leben«, sagt der Schwarzafrikaner. Der Mann, der ihn töten wollte, sitzt zwar in Untersuchungshaft, aber Angst kann man nicht immer mit Logik begegnen. »Es ist ja auch nicht logisch, dass man von einem Arbeitskollegen niedergestochen wird«, sagt John A.
Der Nigerianer, der mit einer Deutschen verheiratet ist und zwei kleine Kinder hat, war beim Sub-Unternehmer Besselmann unter Vertrag und arbeitete im Fleischwerk Tönnies in Rheda-Wiedenbrück (Kreis Gütersloh). Dort packte er im Akkord benutzte Fleischkisten in eine Groß-Spülmaschine - oft in 13-Stunden-Schichten, wie er sagt. Es war am 1. Dezember um 2 Uhr morgens, als John A. einen Stapel Fleischkisten zur Spülmaschine trug und ihn von hinten eine Messer in den Hals traf. Die 14 Zentimeter lange Klinge trat vorne wieder aus, der Griff brach ab. »Ich habe mich umgedreht und einen Kollegen mit dem Messergriff in der Hand gesehen. Ich habe ihn gefragt: Warum hast du mich getötet?«, erinnert sich der Arbeiter. Dann sei er zu Boden gesunken.
Das Motiv für den Mordversuch will das Landgericht Bielefeld in einem Prozess klären, der am 29. Mai beginnt. Der Täter (23), ein türkischer Kurde namens Sultan D., hatte zunächst ausgesagt, er habe an jenem Tag schlechte Laune gehabt. Später behauptete er, John A. habe ihn beleidigt.
Auf dem Fußboden des Schlachhofs kämpfte in jener Nacht ein Notarzt lange um das Leben des Arbeiters, der zu verbluten drohte. Was damals niemand ahnte: Das Opfer lag in ätzender Lauge, die zur Reinigung von Maschinen benutzt wird und permanent den Boden bedeckt. »Es brannte, als hätte mir jemand ein Bügeleisen aufs Bein gedrückt«, erinnert sich John A. Im Notarztwagen habe er »Feuer, Feuer!« geschrien, aber niemand habe damit etwas anfangen können. »Die haben gedacht, der fantasiert«, sagt Rechtsanwältin Gabriele Martens, die John A. vertritt.
Das Ausmaß der Verätzungen wurde erst später im Städtischen Klinikum Gütersloh entdeckt, nachdem Chirurgen den Arbeiter mit einer Not-OP gerettet hatten. Das linke Bein war vom Unterschenkel bis zum Gesäß großflächig betroffen, verätzt waren außerdem der rechte Unterschenkel und der linke Unterarm. Ärzte mussten nahezu die gesamte Haut des rechten, unversehrten Oberschenkels entfernen, um sie auf verätzte Stellen zu transplantieren. Diese Partien gleichen heute einer Vulkanlandschaft und sind zum Teil steinhart. Der Oberschenkel, von dem die gesunde Haut genommen wurde, ist nach fünf Monaten noch immer eine große Wunde, die nicht heilt.
Vor zehn Wochen ist John A. aus dem Krankenhaus entlassen worden, jeden zweiten Tag legt ihm eine Diakonieschwester einen neuen Wundverband an. »Die Schmerzen sind immer da - Tag und Nacht«, sagt der 35-Jährige. Er versuche vergeblich, sich zu beschäftigen und abzulenken. Mal brenne seine Haut wie Feuer, mal durchzuckten Schmerzen seinen Körper wie Blitze. »Ich kann nicht lange stehen, und ich kann nicht lange sitzen, weil die vernarbte Haut dann weht tut«, erzählt der Arbeiter, der deshalb bis zu 16 Stunden am Tag im Bett verbringt. Ärzte haben ihm geraten, die Narben mit Dermatix-Salbe zu behandeln, doch die wird von den Kassen nicht bezahlt. 60 Gramm kosten 114,90 Euro, und die kann John A. nicht aufbringen. Seine Familie muss von dem Krankengeld leben, das die AOK überweist, denn der Arbeitgeber hat seine Zahlungen kurz nach dem Mordanschlag eingestellt und den Sechs-Monats-Arbeitsvertrag nicht verlängert. Seit seiner Entlassung aus der Klinik hat der Arbeiter für Schmerzmittel und Schlaftabletten etwa 200 Euro zugezahlt, da ist die teure Salbe einfach nicht drin.
»Es ist traurig, dass einem Verbrechensopfer nicht alles zur Verfügung gestellt wird, um zumindest die körperlichen Folgen so erträglich wie möglich zu machen«, sagt Rainer Middelstaedt (71) aus Halle. Er ist Mitarbeiter der Opferschutzorganisation »Weißer Ring« und betreut den Schwerverletzten. Zusammen mit Anwältin Gabriele Martens versucht der Opferhelfer, die Rechte des Arbeiters durchzusetzen. »Die Berufsgenossenschaft weigert sich, die Verätzungen als Arbeitsunfall anzuerkennnen, und auch der frühere Arbeitgeber stellt sich stur«, sagt die Rechtsanwältin, die aber nicht klein beigibt: »Niemand hat die Männer vor der Lauge auf dem Boden gewarnt. Kein Arbeiter wusste, wie gefährlich das Zeug ist - und das darf nicht sein«, sagt Gabriele Martens.
Das sehen die Ermittler ähnlich: Staatsanwalt Christoph Mackel, der Sultan D. wegen versuchten Mordes angeklagt hat, hat die Arbeitsschutz-Abteilung der Bezirksregierung Detmold über die schweren Verätzungen des Mannes informiert.

Artikel vom 05.05.2007