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Sie entfaltete das Papier: Da lagen vier oder fünf jener glasig durchsichtigen Steinchen, die Linette draußen gefunden hatte - vielleicht ein bisschen größer als jene, die sie Alf gezeigt hatte.
»Was ist das?«, fragte Sylvie. »Woher hast du das?«
Obwohl Linette immer noch Mühe hatte zu sprechen, gelang ihr eine leidlich verständliche Antwort. »Dort draußen... da gab es eine ganze Menge davon...« - sie deutete auf die Steine - »sie sind so hübsch...«
»Und da hast du einige mitgenommen«, stellte Gijon fest. Er streckte die Hand nach dem Häufchen aus.
»Halt, fass das nicht an«, sagte Sylvie mit erhobener Stimme, und sie fügte zu Linette gewandt hinzu: »Vielleicht sind diese Dinger an deinen Schwierigkeiten schuld.«
»Lass sehen«, verlangte Alf. Aus dem Werkzeugkasten holte er eine Plastiktüte und nahm damit die Steine auf, indem er sie darüberstülpte, ohne sie zu berühren. So hielt er sie auf der flachen Hand, und alle drängten sich um ihn, um sie in Augenschein zu nehmen.

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lf trat an das Kommunikationspult und schob das Tütchen mit den Steinen vor das Objektiv, das normalerweise die Bilder der davor sitzenden Menschen aufnahm. Er stellte den Zoom auf starke Vergrößerung. »Da klebt Staub daran«, sagte er, und Sylvie fügte hinzu: »Vielleicht hat sie etwas davon eingeatmet.«
Die Gefährten blickten einander betroffen an.
»Vielleicht ist der Staub in die Luft geraten...«
»Wirf das Zeug wieder hinaus...«
»Vielleicht haben wir uns Bakterien eingefangen...«
»Bakterien sind gar nicht nötig - ein bisschen Nanostaub genügt. Und den soll es hier ja geben.«
Inzwischen war Alf ohne weitere Erklärungen ans Schaltpult getreten, und schon hörten sie das Geräusch der Pumpen, die die Luft umwälzten und durch die Filter pressten - zur Reinigung, die jetzt angeraten war. Dann bat er Sylvie um ein Desinfektionsspray, mit dem er die Steine und das Tütchen besprühte.
Ramses trat an Linette heran und packte sie am Arm. »Was hast du dir dabei gedacht?«, herrschte er sie an. »Willst du uns alle vergiften?«
»Lass sie los!«, sagte Sylvie und drängte ihn sanft, aber entschieden zurück. »Das bringt doch nichts!«
»Bodenloser Leichtsinn!«, schimpfte Gijon. »Sie hat die Steine in die Außentasche gesteckt und mit hereingeschmuggelt. Und dann hat sie die Tasche ohne jede Vorsichtsmaßnahme geöffnet, um sich die Klunker anzusehen.«
Linette, die sich inzwischen ein wenig gefasst hatte, sah sich angegriffen und sagte kleinlaut: »Aber sie sind doch so hübsch.«
»...tatsächlich sind sie sogar recht wertvoll«, mischte sich Alf ein. »Ich habe davon gelesen: Es sind Stücke von Gestein, das durch Meteoriteneinschläge aufgeschmolzen wurde. So etwas kommt auch auf der Erde vor, ich glaube irgendwo in der Sahara. Nun haben wir es auch auf dem Mars gefunden, eigentlich eine schöne Entdeckung! An Einschlägen von Meteoriten herrscht ja hier kein Mangel...«
»Das ist ja fein«, sagte Gilbert, »wenn wir den Schatz nicht finden, dann nehmen wir eben einige dieser Steine mit.«
Die anderen hatten im Moment keinen Sinn für seine Scherze.
»Glaubst du, dass wir etwas davon eingeatmet haben? - dass es uns geschadet hat?« Es war Henrich, der die Frage stellte; unwillkürlich hatte er sich an Sylvie gewandt, die damit als Ansprechstelle für medizinische Problemfälle anerkannt war.
»Ich glaube nicht«, antwortete sie. »Aber es sollte uns daran erinnern, dass wir vorsichtig sein müssen.«
Auch Alf versuchte, Henrich zu beruhigen. »Ich lasse die Pumpen noch einige Zeit laufen«, sagte er. »Ich glaube nicht, dass allzu viel in die Luft geraten ist, denn dann würden wir ja alle husten.«

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twas unschlüssig darüber, was nun zu tun war, setzten sie sich auf die Bänke, und der schweigsame Cassius holte einige der kleineren, für Zwischenmahlzeiten bestimmten Päckchen aus dem Wandschrank und bot Süßigkeiten an. Er begann eifrig zu essen, während die anderen keinen rechten Appetit zu haben schienen.
»Vielleicht war das ein inszenierter Zwischenfall«, sagte Gijon in die Stille hinein. »Es ist doch nicht anzunehmen, dass sie uns mit Bakterien verseuchen wollen.«
Alle verstanden, wen er meinte: die Organisatoren des Spiels, nach deren Vorschriften es ablaufen sollte.
Sylvie schüttelte den Kopf. »Inszeniert? Das glaube ich nicht. Sie konnten schließlich nicht wissen, dass sich Linette für diese Scherben interessieren würde.«
»Versuchen wir doch noch einmal, mit der Erde Kontakt aufzunehmen«, meinte Gilbert, und er setzte sich ans Schaltpult. »Wenn es ein unbeabsichtigter Zwischenfall ist, dann müssen sie uns einen Rat geben, was zu tun ist.« Er sprach einige Sätze ins Mikrophon, bat um Hilfe, machte die Sache dringlich.
»Und was tun wir, wenn wieder keine Antwort kommt?«, fragte Gijon. »Wenn man uns im Stich lässt?«
Gilbert stand auf, zuckte die Schultern. »Vielleicht steht darüber etwas in den Betriebsvorschriften?«
Alle redeten durcheinander, doch Gijon beendete das Stimmengewirr, indem er mit der flachen Hand auf die Platte des Klapptisches schlug. »He, ihr vergesst wohl die Situation! Ihr wisst, dass alles mitgeschnitten wird! Schluss mit dem Gere-
de - wir müssen das Spiel mitspielen.«
»Ich bitte mir ein wenig Rücksicht auf die Zuschauer aus«, rief Gilbert, und es blieb offen, ob er es ernst meinte.
»Warum sollen wir besondere Rücksicht nehmen, wenn sie uns so hängen lassen?«, beschwerte sich Cassius. »Es werden doch sowieso nur Ausschnitte gesendet. Sie können ja herausschneiden, was sie wollen!«
»Aber sie dürfen uns nicht in Gefahr bringen«, sagte Linette mühsam zwischen zwei Hustenanfällen.

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enrich war der Unterhaltung mit spöttisch verzogenem Gesicht gefolgt. »Du wirst doch nicht annehmen, dass die uns wirklich auf den Mars geschickt haben«, sagte er. »Natürlich haben sie das behauptet, aber wer glaubt schon daran! Es ist eine perfekte Simulation.«
»Meinst du?«, fragte Gilbert. »Es hat doch schon mehrere Erlebnisspiele gegeben, bei denen man die Teilnehmer tatsächlich in gefährliche Situationen gebracht hat - denkt nur an die Sache mit dem versunkenen Schiff!«
»Das war ganz schön gruselig«, bemerkte Cassius, »dabei hat sich einer die Schulter gebrochen.« Aber niemand wollte jetzt auf die Erlebnisse der Crew mit Muränen und Kraken eingehen.
»Eine Unterwasserlandschaft - da gibt es keine technischen Probleme«, sagte Sylvie. »So etwas macht man im Schwimmbecken. Pflanzen aus Plastik, eingeblendete Fische... Aber beim Mars? Verminderte Schwerkraft, Strahlung, Vakuum... das lässt sich nicht so leicht simulieren.«
»Es gibt mir auch zu denken«, sagte Alf. »Akustische und visuelle Erscheinungen kriegt man so hin, dass niemand mehr unterscheiden kann, ob sie echt sind oder simuliert. Aber mit der Schwerkraft sieht das anders aus: Man kann sie nun einmal nicht beeinflussen. Deshalb bin ich ziemlich sicher, dass wir tatsächlich auf dem Mars sind.«

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inige Sekunden lang herrschte nachdenkliches Schweigen. Dann wandte sich Sylvie an Ramses und fragte: »Was meinst du?«
Ramses kniff die Augen nachdenklich zusammen. Dann antwortete er zögernd: »Ich bin mir nicht sicher. Die Simulationen werden immer raffinierter. Und was die Schwerkraft betrifft - vielleicht hat man dafür eine Methode gefunden. Aber«, er wirkte jetzt sicherer, »eigentlich braucht es uns nicht zu kümmern, wir müssen uns so verhalten, als wäre es der echte Mars - so einfach ist das. Und damit erübrigt sich jede Diskussion. Wir sollten uns nicht von sinnlosen Zweifeln beirren lassen. Es ist spät, der Tag war anstrengend, und ich meine, wir sollten an die Nachtruhe denken.« Damit war der Streit zunächst einmal zu Ende, allerdings war er damit noch längst nicht entschieden.
Ein Blick zu den Luken ließ erkennen, dass es draußen dunkel geworden war - offenbar hatte sich die Dämmerung rasch vollzogen. Jetzt erst wurde ihnen bewusst, dass schon ein ganzer Tag vergangen war.

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lf schaltete den großen Bildschirm ein und richtete den Fokus hinauf zum Himmel. Es war irgendwie beruhigend, dass sich dabei dieselben Sternbilder zeigten, wie sie auch von der Erde aus zu beobachten waren. Nur die Zahl der Lichtpunkte schien sich vervielfacht zu haben, sie standen so dicht, dass kaum ein Platz zwischen ihnen leer blieb. In diesen Anblick versunken, dem sich keiner entziehen konnte, ließen
sie das Bild einige Zeit auf sich wirken. Doch dann mahnte Ramses, mit den Vorbereitungen zur Nachtruhe zu beginnen. Wegen der Enge des Raums war das mühevoller, als es sich anhörte, und auch die Zeit, die sie für die Abendtoilette brauchten, zog sich in die Länge, da sich in der abgetrennten Kabine stets nur eine Person aufhalten konnte.

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uch Linette hatte sich aufgerafft und war einige Zeit im Waschraum verschwunden, doch immer wieder drang ihr unterdrücktes Husten hervor. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 09.05.2007