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»Die Bremserhäuschen sind leer,
und zwei Züge rasen weiter aufeinander zu.«

Leitartikel
Postmoderne Putschgefahr

Türkei: Kollision absehbar


Von Jürgen Liminski
Die Türkei steht vor schicksalhaften Wochen. Die beiden politischen Züge des Landes, Säkularisten und Islamisten, haben Fahrt aufgenommen und rasen nun aufeinander los.
Im einen sitzen die Generäle als Statthalter des Kemalismus, der die Trennung von Staat und Religion verteidigt, im anderen die Regierung Erdogan, offiziell als Verfechter der Demokratie, insgeheim jedoch als Vertreter eines Islam, der die Türkei in die Zeit vor Kemal Atatürk zurückführen und damit die Trennung zwischen Staat und Religion aufheben will.
Noch sind die Bremserhäuschen leer, und man wird weiter aufeinander zurasen. Der Kurs ist festgelegt. Ziel ist für beide Züge das Amt des Staatspräsidenten.
Die Generäle unterstellen - sicherlich nicht zu Unrecht - der Regierung Erdogan, dass sie mit dem Staatspräsidenten als Oberbefehlshaber die Gralshüter des Kemalismus entmachten wollen. Diesem Ziel dient auch die Integration in die EU, weshalb Erdogan vor zwei Wochen noch einmal Druck auf die Verhandlungen mit Brüssel ausübte und ein Datum für die Mitgliedschaft festlegen wollte. Erdogan beschwört die Verfassungstreue seiner Regierung und des Kandidaten für das Präsidentenamt, Abdullah Gül.
Die Generäle haben die Islamisten mehrfach gewarnt. Schon die Wahl des Generalstabschefs Yasar Büyükanit - den Namen muss man sich merken - im letzten Oktober war ein deutlicher Hinweis, dass man die Fahrt des islamischen Zugs stoppen wolle. Es wäre auch nicht das erste Mal.
Schon vor zehn Jahren wurde der damalige Premier Necmettin Erbakan mit einem sanften, sozusagen postmodernen Putsch entmachtet. Die 18 Bedingungen, die die Generäle damals der Regierung und ihrer Nachfolgerin stellten, sind aber bei weitem nicht alle erfüllt worden. Die Imam-Hatip-Schulen, die einen orthodoxen Islam lehren und zu deren Absolventen auch Erdogan gehört, verbreiten ihre Version des Islam ungehindert weiter, viele Stellen in der Verwaltung und der Justiz sind mittlerweile mit Anhängern Erdogans aus dessen Gerechtigkeitspartei AKP besetzt.
Gül wird diese Wochen auch im zweiten Wahlgang nicht die erforderliche Zwei-Drittel-Mehrheit bekommen. Und dann wird es spannend.
Im dritten Wahlgang braucht er nur die absolute Mehrheit, über die die AKP sicher verfügt. Dass die Generäle seit Freitagabend ihre »Sorge« und den Willen zur »Erfüllung ihrer Aufgabe« öffentlich bekunden, ist eine klare Ansage. Sie werden ihren Zug nicht stoppen.
Und dass die Straße mitmarschiert, zum Beispiel am Sonntag massenhaft in Istanbul, wo mehrere hunderttausend Menschen gegen die islamistische Regierung demonstrierten, wird sie in ihrer Haltung nur bestärken.
Die Mahnungen aus Brüssel interessieren sie da wenig. Man darf gespannt sein, ob es in den nächsten zwei Wochen zu Bewegungen im Bremserhäuschen des Islamisten Zuges kommt. Erdogan ist nicht der Mann, der kurz vor dem Ziel aufgibt.

Artikel vom 01.05.2007