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Gut genährte Mär vom Schwund

Deutsche sterben nicht aus - »Experten« im Dienste der Finanzindustrie

Von Rolf Dressler
Bielefeld (WB). Die Deutschen sterben nicht aus. Die staatliche Rente ist nicht am Ende. Vielmehr dramatisieren und übertreiben die Medien-Meinungsführer die Bevölkerungsentwicklung »heillos und machen sich damit zu Verlautbarern und Interessenvertretern der Privatversicherer«.

Zu diesem Befund gelangt in einem Beitrag für das internationale Journalisten-Magazins »Message« Albrecht Müller, ehemals Leiter des Planungsabteilung der Kanzler Willy Brandt und Helmut Schmidt sowie SPD-Bundestagsabgeordneter und heute freier Publizist. Sein jüngstes Erfolgsbuch war »Die Reformlüge« (Verlag Droemer Knaur).
Reizpunkt Bevölkerungsvorhersagen. Dazu führt Albrecht Müller unter anderem folgendes an:
Objektiv falsch sei die Behauptung, dass die Geburtenrate den tiefsten Stand seit 1945 habe, weil jede Frau statistisch nur noch 1,36 Kinder zur Welt bringe. Tatsächlich wurde der Tiefpunkt bereits 1985 mit 1,28 Geburten je Frau verzeichnet. Aktuell werden in zehn EU-Ländern weniger Kinder geboren als in Deutschland.
Verschwiegen werde, wer solch irreführende Studien finanziere, schreibt Müller und nennt als Beispiel die marktstarke Deutsche Krankenversicherung AG (DKV), ein Tochterunternehmen des Branchenriesen Ergo, die Darmstädter Software-AG-Stiftung und die Robert-Bosch-Stiftung.
In einer zweifelhaften Rolle befinde sich sogar das Statistische Bundesamt. Die Wiesbadener Behörde spiele der Versicherungswirtschaft geradezu in die Hände. So habe sie erst unlängst ihre »Bevölkerungsvorausberechnungen«, die sie ausdrücklich nicht als »Prognosen« verstanden haben möchte, einerseits binnen nur drei Jahren von 81,3 Millionen auf 74 Millionen im Jahre 2050 zurückgenommen. An anderer Stelle hingegen, in Tabellen »ziemlich versteckt« sei vermerkt, dass 2050 durchaus immer noch 79,5 Millionen Menschen hier in Deutschland leben könnten, also kaum weniger als heute. Es sei »schwer, solchen Manipulationsversuchen auf die Schliche zu kommen«, fügt Müller hinzu.
Reizpunkt »Schrumpfrente« und Ämterverquickung: Offenbar gezielt verbreiteten Politik, Versicherungswirtschaft und Medien, die Deutschen müssten sich auf Jahrzehnte hin unausweichlich auf massiv abschmelzende staatliche Renten gefasst machen; Altersbezüge von heute beispielsweise 1000 Euro würden im Jahre 2035 al- lenfalls noch 568 Euro wert sein; und bis dahin werde sich bei den Renten Nullrunde an Nullrunde reihen.
Die mitgelieferte Zahlentabelle aber stammt nicht etwa von neutraler Seite, sondern vom Deutschen Institut für Altersvorsorge (DIA), einer Tochterfirma der Deutsche-Bank-Gruppe. Und: Die Nullrunden-Vorhersage kommt von Prof. Bernd Raffelhüschen, der laut Müller vielfältig und sehr einträglich mit der Finanzwirtschaft verbunden ist. Er wirke als Berater des Gesamtverbandes der Versicherungswirtschaft und der Victoria-Versicherung, stehe in Diensten des Finanzdienstleisters MLP und sei zudem Botschafter der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft.
Gleiches gilt für zahlreiche andere Urheber der Alarm- und Notrufe über die »Schrumpfrente« im Verbund mit dem angeblich katastrophalen »Bevölkerungsschwund« (»Deutschland stirbt aus«). Auffallend oft meldeten sich Professoren wie Bert Rürup, Meinhard Miegel oder Hans-Werner Sinn, der Chef des Münchener Ifo-Instituts, zu Wort. Auch sie stünden in Diensten der Finanzindustrie. So seien Rürup, Miegel und Sinn »Vortragsreisende« für MLP, Sinn sitze im Aufsichtsrat der HypoVereinsbank und Miegel berate die Deutsche-Bank-Tochter DIA, für das sein Institut für Wirtschaft und Gesellschaft (IWG) Gutachten erstelle. Über derlei Interessenverquickung erfahre die verunsicherte Bevölkerung nichts, schreibt Müller. Kommenar

Artikel vom 28.04.2007