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Wenn die Brille nicht mehr hilft

Annegret Speicher verkauft in Paderborn Lupen und noch viel mehr

Von Bernhard Hertlein
Paderborn (WB). Zum Optiker geht, wer eine neue Brille braucht. Was aber, wenn die Brille nicht mehr hilft? Wenn die Sehleistung unter 30 Prozent (sehbehindert) oder gar unter fünf Prozent (hochgradig sehbehindert) abgesunken ist?

Annegret Speicher lächelt: In diesem Fall hilft die »Low-Vision-Optikerin«. In ganz Deutschland gibt es nicht mehr als eine Handvoll, die sich auf dieses Fachgebiet spezialisiert haben. Die Paderbornerin ist eine von ihnen. Annegret Speicher gehört nicht zu der Sorte Frauen, die sich Hals über Kopf in ein Abenteuer stürzen. Als Mutter von vier Kindern muss sie sich nicht beweisen. »Risiken soll man eingehen«, sagt sie. »Aber sie müssen überschaubar sein.«
Mitte 40 entschloss sie sich, ins Berufsleben zurückzukehren. Ein Teilzeitjob sollte es sein, der Familie wegen. Doch die Optikerin, bei der sie begann, geriet wirtschaftlich in eine Schieflage. Speicher begann, sich nach einer Alternative umzusehen. Die verlockendste war die Selbstständigkeit.
Der Gedanke, sich auf Low Vision zu spezialisieren, kam ihr vor etwas mehr als drei Jahren. Über den fränkischen Hersteller von Sehhilfen, A. Schweizer, kam die Paderbornerin in Kontakt mit Low-Vision-Optikern in Braunschweig und Rheinbach bei Bonn. In Gesprächen mit ihnen und auf vielfältige andere Weise beschaffte sie sich selbst das notwendige Know-how: mit der Lektüre von Fachbüchern, im Internet, auf Fortbildungskursen. Nach zwei Jahren fühlte sie sich fit. Aber es dauerte fast noch ein Jahr, ehe auch eine geeignete Lokalität gefunden war: »Im Interesse der Kundschaft sollte der Laden unbedingt ebenerdig zugänglich sein, im Stadtzentrum von Paderborn, leicht erreichbar auch mit öffentlichen Verkehrsmitteln.«
Inzwischen spricht sich die Adresse von Annegret Speicher unter denen, die in und im weiten Umland von Paderborn eine Sehhilfe benötigen, immer mehr herum. »Sich zu vernetzen ist in meiner Position unumgänglich«, sagt sie. Heute schicken andere Optiker sehbehinderte Kunden schon mal weiter zu Annegret Speicher. Diese hat sich ihrerseits mit Augenärzten, der Westfälischen Schule für Sehbehinderte und Blinde in Paderborn sowie anderen Einrichtungen, die Sehbehinderten unter die Arme greifen, vernetzt, um besser informieren zu können. Die Kunden schätzen diesen Service. Ein Beratungsgespräch dauert gut und gerne eineinhalb Stunden. »Da darf man nicht in jedem Augenblick nachprüfen, ob sich das auch wirtschaftlich rechnet«, sagt die Low-Vision-Optikerin. Unterm Strich aber muss die Bilanz stimmen. Dabei kommt ihr zugute, dass die Krankenkassen - anders als bei den normalen Brillenkunden - noch einen Teil der Kosten übernehmen. Aber die Familie jetzt schon von dem Geld, das sie mit ihrem Laden einnimmt, zu ernähren, wäre schwierig: »Da bin ich ganz froh, noch einen Mann zu haben, der jeden Monat ein solides Gehalt nach Hause bringt.«
Das Angebot an Sehhilfen in Speichers »Lupen & mehr«-Laden ist erstaunlich. Die verschiedensten Lupen, mit oder ohne Beleuchtung, mit oder ohne Farbfilter. Kantenfilter zur Kontraststeigerung. Unterschiedliche Sehhilfen zum Lesen, Heimwerken, Stricken, Sticken oder Fernsehen.
»Und wenn die Optik nicht hilft, dann hilft vielleicht die Elektronik«, erklärt Speicher. Bildschirm-Lesegeräte vergrößern Buch- und Zeitungsseiten um das 2,5- bis 50-fache. Sehschwache Schüler können endlich mit Hilfe von Laptop und Kamera alles lesen, was der Lehrer an die Tafel schreibt.
Wenn dann auch die Elektronik nicht mehr hilft, bleibt die Akustik. Zu CDs, Kassetten und Büchern in der Blindenschrift Braille kommen »sprechende Lesegeräte« - Computer, die geschriebene Texte in Sprache verwandeln.

Artikel vom 28.04.2007