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Vier Kinder ein
Jahr lang allein

Mutter seit 2006 bei einem Freund

Berlin (dpa). Ein neuer Fall von Kinderverwahrlosung erschüttert Berlin. Eine 46-jährige Alleinerziehende soll ihre vier Kinder seit dem Sommer 2006 sich selbst überlassen haben.
Er war mit seinen Kräften am Ende. Seit fast einem Jahr, berichtete der zwölfjährige Junge den Sozialarbeitern in Berlin-Prenzlauer Berg, müsse er seine drei kleinen Geschwister alleine versorgen.
Die Mutter sei zum Freund gezogen, jetzt wisse er einfach nicht weiter. Lange hatte der Junge gezögert, um Hilfe zu bitten, und die Mutter damit geschützt.
Er schäme sich, die Polizisten in die Wohnung zu führen, sagte der Junge den vom Jugendamt alarmierten Beamten. Spinnweben überzogen bereits die Möbel. Der leere Kühlschrank wimmelte vor Ungeziefer, die Toilette war verdreckt und mit Kot bedeckt, der gesamte Fußboden der Wohnung von Müll, verschmutzter Wäsche und Lebensmittelresten übersät. Ein Zimmer war so vermüllt, dass sich die Tür nicht mehr öffnen ließ. Gegen die Mutter, deren Aufenthaltsort der Polizei bekannt ist, wird wegen Verletzung der Fürsorge- oder Erziehungspflicht ermittelt.
Unklar war zunächst, wovon sich die Kinder im Alter von acht, neun, elf und zwölf Jahren in den vergangenen Monaten ernährt hatten. Ab und zu sollen sie von der Mutter Geld bekommen haben. Er habe die Frau nur selten gesehen, berichtete ein Nachbar. Meistens seien die Kinder alleine gewesen. Mehrmals habe er an die Wohnungstür der Familie geklopft, doch nie habe jemand geöffnet, obwohl er Kinderstimmen gehört habe.
Auf den ersten Blick war das Leiden nicht zu sehen. Mit Fingerfarben haben Kinderhände lustige rote und grüne Abdrucke an der Wohnungstür hinterlassen. Eine schwarz-weiße Postkarte mit einer Kerze klebt unter dem Spion. »Alles wird gut« heißt es vielsagend auf einem Aufkleber. Ein Dinosaurier-Bild verziert das Fenster zum Innenhof.
Die Familie war dem Jugendamt seit 1998 bekannt, wie die Jugendamtsdirektorin von Pankow, Judith Pfennig, sagte. Wann das letzte Mal ein Mitarbeiter die Wohnung gesehen hat, konnte sie zunächst jedoch nicht sagen. Weder den Sozialarbeitern noch den Lehrern sei die Verwahrlosung aufgefallen. »Die Kinder gingen regelmäßig zur Schule, waren nicht unterernährt und auch bei kaltem Wetter ausreichend gekleidet.«
Kinder schützen nach den Worten von Pfennig ihre Eltern häufig auch dann nach außen, wenn es ihnen bei ihnen nicht gut geht. »Sie machen alles, damit nicht klar wird, dass ihre Mutter keine gute Mutter ist.« Der Direktor der Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Vivantes-Klinik Berlin, Oliver Bilke, sagte: »Außerdem verstehen Kinder häufig gar nicht, dass sie vernachlässigt werden. Dafür fehlen ihnen die Vergleichsmöglichkeiten.«
Drei der Geschwister werden jetzt vom Jugendamt betreut, das vierte Kind kam am Freitag von einer Klassenfahrt zurück.

Artikel vom 28.04.2007