05.05.2007 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 


Vorspiel
Es ist dunkel und ruhig... Keine Bewegung, keine Veränderung, über lange Zeit hinweg... Waren es Tage, Wochen, Monate, Jahre? Wo sich nichts regt, steht die Zeit still...
Doch in der Welt gibt es keinen Stillstand, in den Bereichen der Elementarteilchen und Quanten, wo sich die Realität in Mathematik auflöst und der Zufall eingreift, regt sich immer etwas, und diese Regungen können sich jederzeit verstärken, in die Umgebung hinein wirken, in den Makrokosmos, in den Bereich des menschlichen Vorstellungsraums, und dadurch Bedeutung gewinnen.
In dem engen, abgekapselten Raum war es der stete Puls der Atomuhr, der dafür sorgte, dass die Zeit allem Anschein zum Trotz weiterlief. Solange nichts da ist, was darauf reagiert, hat das keine Folgen. Aber schon von Anfang an war der Schalter gestellt, die Laufzeit vorherbestimmt.
Und nun ist die Marke erreicht...

D
ie Speicher senden Kaskaden von Impulsen aus, Schaltelemente leiten sie zu den logischen Elementen, wo die Daten verarbeitet und die Entscheidungen getroffen werden.
Sensoren aktivieren ihre Membranen, ihre Fühler, ihre lichtempfindlichen Zellen. Messgeräte tasten die Umwelt ab und wandeln Zahlen in Daten um. In Speichern werden sie verglichen, mit anderen Daten verknüpft, zu Sinnhaftigkeit verdichtet. Signale laufen durch Leiterbahnen und auch durch den leeren Raum, erreichen Relais, die Geräte in Funktion setzen: Bildschirme werden hell, Lautsprecher summen, Zeiger schlagen aus. Und einige Signale wandern auch durch die Haut der Menschen, durch die Stränge ihrer Nerven, bis zu den Synapsen in den Gehirnen, bis zum Bewusstsein, wo sie zum Handeln aufrufen.
Wie von Geisterhand beschworen erscheint nun ein Muster, rote, grüne und blaue Punkte, ein samtiges Licht, das frei im Raum schwebt.
Die Wartezeit ist vorbei, das Abenteuer beginnt...


Mars, erster Tag
Natürlich war Alf die Situation vertraut: Beginn einer Reise, Ankunft, erste Eindrücke, noch schwer einzuordnen, Irritationen, Widersprüche, die Atmosphäre spannungsgeladen...
So fangen Geschichten an. Spannende Geschichten, Reiseberichte, Abenteuer, Kriminalfälle. Gelegentlich sogar wahre Geschichten.
Er kannte sie aus vielen Romanen, Filmen und Erlebnisspielen - als Leser, als Zuschauer, als Beobachter von außen. Die Ouvertüre, Signal für das Publikum, noch rasch die Tüten mit getrockneten Tomatenscheiben und Zwiebelschnitten zu holen, die Schüsseln mit getrockneten Nüssen, die Tabletts mit gekühlten Getränken. Sich nun gemächlich niederlassen, entspannen. Zuschauer wie er.
Doch diesmal war der Zusammenhang ganz anders. Er war kein passiver Zuschauer mehr. Die Situation vertraut, doch das Erlebnis neu. Alf empfand es mit dem ganzen Leib: Er spürte sein Herz schlagen, Hitze seinen Körper durchlaufen. Die Nachricht kündigte mehr an als eine Stunde passiver Unterhaltung, weitaus mehr: Sie war das Zeichen für den Beginn des großen Abenteuers.

W
ie seine sieben Gefährten war er noch zu keiner physischen Aktion fähig. Gerade dass er die Augen öffnete, blinzelte, die Umgebung zu erkennen versuchte... Sein Körper war von einer mit Sensoren gespickten und von Drahtgeflecht und Mikroröhren durchzogenen Kunststoffhülle umgeben, und nur ein schmales Glasfenster vor den Augen ließ die Sicht nach außen frei.
Alf war jetzt hellwach und doch nicht fähig, sich zu befreien. Erst allmählich stellte sich das Körpergefühl ein. Das Erste, was ihm bewusst wurde und ihn zur Initiative zwang, war der Druck auf der Blase. Es war eine Herausforderung, sich seiner Starre zu entwinden, die Liegestatt zu verlassen, und unwillkürlich versuchte er sich aufzurichten. Natürlich gelang es nicht, denn er steckte fest im Anzug, und dieser war auf der Unterlage befestigt. Doch seine vergeblichen Versuche dauerten nur einen Moment, dann erinnerte er sich, dass für einen solchen Fall die integrierte Recyclinganlage zuständig war. Und so ließ er den Dingen ihren Lauf und durfte erleichtert in das Kissen zurücksinken. Noch eine kurze Frist, um liegen zu bleiben, sich anzupassen...

Die Phase der negativen Beschleunigung geht zu Ende. Noch zehn Sekunden, neun, acht, sieben...« Alf war diese Stimme vertraut, auch während der drei Monate Unterricht und Training hatte sie Anweisungen gegeben, präzise und teilnahmslos. Als sie bei null angekommen war, verschwand der Andruck, den man der gewohnten Gravitation zuschreiben mochte, der aber eine Trägheitswirkung war. Von einem Moment zum anderen spürte er kein Gewicht mehr, und trotz aller Trainingseinheiten im Parabelflug stellte sich das flaue Gefühl eines ungebremsten Fallens ein.
»Wir nähern uns dem Ziel, in zehn Sekunden beginnt das Landemanöver.« Und wieder begann die Stimme mit dem Ab zählen der Sekunden. Dann war erneut Druck zu spüren, zuerst nur leicht, doch bald auf ein Vielfaches der Erdanziehung verstärkt. Die Richtung der an ihm zerrenden Kraft wechselte nun mehrfach innerhalb kürzester Zeit - ein Rucken und Schütteln, das Alf einmal in die Unterlage presste, das andere Mal in die Höhe riss. Während der letzten Trainingswochen hatten sie Stunden in den Zentrifugen verbracht, doch das, was er jetzt empfand, überstieg die Eindrücke der Übungsstunden beträchtlich, und Alf fühlte Übelkeit in sich aufsteigen. Er kämpfte dagegen an - erfolgreich, sein Unbehagen blieb im Rahmen des Erträglichen.

D
och es schien ärger zu werden: Denn nun veränderte sich die Bewegungsrichtung nicht nur nach oben und unten, sondern zusätzlich auch nach rechts und links... eine kaum erträgliche Beanspruchung, die glücklicherweise nur kurz andauerte. Dann endlich wurde es ruhig, der Andruck war immer noch ungewohnt stark, doch er wirkte - wie es sein sollte - in Richtung Boden.

E
s war die Gelegenheit, sich zu erholen, den Kopf zu drehen und einen Blick auf die Gefährten zu werfen. Inzwischen war der Raum in dämmriges Licht getaucht, doch nun wurde es plötzlich heller, das Licht kam vom großen Bildschirm, dem Ersatz für ein Aussichtsfenster. Und darauf erschien nun eine weiße Scheibe, so hell, dass sich die Augen erst darauf einstellen mussten, nur allmählich schälte sich aus dem blendenden Flimmern etwas hervor, das sich zu erkennen gab: eine rötlichbraune Kugel, die etwa ein Drittel der Sichtfläche einnahm und sich langsam in die Bildfläche hineinschob. Zugleich erschienen von Schatten gesäumte Hügelketten, tiefe dunkle Täler und aufgeworfene Kraterringe.
Kein Zweifel, es war der Mars.

D
er Anblick des roten Planeten rief Erinnerungen wach, Erinnerungen an die Aufgabe, an das Ziel der Expedition, an die Gefährten der weiten Reise. Drei Monate waren sie im Trainingslager zusammen gewesen, hatten einander kennengelernt, zumindest insoweit, dass sie sich ein oberflächliches Bild voneinander machen konnten. Ob diese Erfahrungen für die nächsten Tage reichen würden, wenn es darum ging, zusammen die schwere Prüfung zu bestehen?
Alf merkte, dass er wieder zu Kräften kam, körperlich und auch geistig. Sein kritisches Bewusstsein meldete sich: Befanden sie sich wirklich schon am Zielort, mitten im Geschehen, oder gehörte diese Szene, die sie eben erlebten, noch immer zur Ausbildung? Die virtuell vermittelten Eindrücke waren so nahe an der Realität gewesen, dass sich die Unterschiede verloren. Aus dem Lager heraus, als unförmiges Bündel verschnürt, war ihm kein Blick zur Seite gestattet. Doch als er nun seine Aufmerksamkeit auf die leisen Geräusche richtete, die aus seinem Helmlautsprecher drangen, konnte er Atemzüge, Räuspern und unterdrücktes Husten hören.

U
nd ehe er seinen Zweifeln weiter nachhängen konnte, ertönte auch schon eine Stimme, die er als jene von Ramses erkannte.
»He, seid ihr alle wach? Habt ihr es gehört? Wir sind angekommen. Ist euch das klar? Dieser Ball da auf dem Schirm, das ist der Mars.«
Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten, es waren mehrere, die durcheinanderriefen.
Dann wieder die Stimme von Ramses: »Stopp, Leute. Das macht keinen Sinn. Ich schlage vor, dass ich der Reihe nach abfrage, vielleicht schläft doch noch einer. Hallo, Alf?«
»Ich bin wach, es geht mir gut.«
»Henrich...«
Die Antwort kam sofort: »Alles okay.«

A
uch die anderen meldeten sich prompt, Gijon, Cassius, Linette und Sylvie, nur Gilbert musste wieder einen Scherz daraus machen - er tat so, als wäre er noch benommen, und bat um den Zimmerservice, der ein kräftiges Frühstück bringen sollte. Ist er wirklich so ein heiteres Gemüt, fragte sich Alf, oder hat er eine Karriere als Komiker im Auge? Was wusste er schon darüber, welche Erwartungen und Hoffnungen die anderen mit diesem Unternehmen verbanden?



(wird fortgesetzt)

Artikel vom 05.05.2007