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Wut und Trauer in Erfurt
fünf Jahre nach dem Amoklauf

Direktorin des Gutenberg-Gymnasiums beklagt mangelnde Konsequenzen

Von Thomas Kunze
Erfurt (dpa). Vor fünf Jahren erschütterte der Amoklauf am Erfurter Gutenberg-Gymnasium Deutschland und die Welt. 16 Lehrer und Schüler starben. Das Leid der Überlebenden dauert bis heute an.

Immer und immer wieder werden die Schüler und Lehrer des Erfurter Gutenberg-Gymnasiums an diese grauenvollen, endlos langen Minuten am 26. April 2002 erinnert. Da sind zum einen die Veranstaltungen, mit denen sie seither alljährlich um die 16 Opfer des Massakers trauern und Blumen an der Gedenktafel am Haus niederlegen. Heute ist es wieder so weit. Das Gedenken beginnt um 10.45 Uhr - kurz darauf hatte damals das Morden begonnen. »Das ist für uns immer eine schwierige Zeit, das Geschehen von damals kehrt wie im Zeitraffer zurück«, sagt die Direktorin Christiane Alt. Der 18-jährige Schüler Martin Libutzki bestätigt: »Je näher der 26. April rückt, desto größer wird die Emotionalität in den Klassen.«
Hinzu kam diesmal kurz vor dem Gedenktag der Schock des Blutbades an der Technischen Universität in Blacksburg (US-Bundesstaat Virginia). »In solchen Momenten ist alles wieder da«, sagt die Schulleiterin. Wie ihr ging es vielen Schülern und Lehrern des Gymnasiums unweit der Erfurter Altstadt. Denn vor fünf Jahren hatte Ex-Schüler Robert Steinhäsuer in kaum mehr als zehn Minuten an dem Gymnasium zwölf Lehrer, die Schulsekretärin, zwei Schüler sowie einen Polizisten getötet und sich dann selbst erschossen. »Wenn wir solche Bilder wie in Virginia sehen, kehrt die Erinnerung mit einem Schlag zurück«, gibt Alt ihre Empfindungen wieder.
Die heutigen zehnten, elften und zwölften Klassen und ein Großteil der Lehrer haben das Grauen damals miterlebt. »Äußerlich unterscheiden wir uns nicht von anderen Gymnasien, wir lernen und lachen wie unsere Altersgenossen«, sagt Schülersprecher Eric Wisotzki aus der 12 VII. »Und doch schwingt das Geschehen von damals immer mit, es ist immer im Hintergrund«, fügt der 18-Jährige hinzu.
Für die Schüler und Lehrer ihrer Schule sei es schrecklich, dass erneut so viele Menschen bei einem Massaker getötet wurden, betont Direktorin Alt. »Zum anderen leiden wir darunter, dass kaum Konsequenzen aus solch schrecklichen Ereignissen gezogen werden.« »Wir haben es seit dem 26. April 2002 so oft gefordert, dass ich eigentlich gar nicht mehr darüber sprechen möchte: Wir brauchen an unseren Schulen ausgebildete Erzieher und Sozialarbeiter. Und die Lehrer brauchen mehr Zeit, um Schüler individuell zu fördern und Auffälligkeiten zu erkennen.«
So mahnen vor dem Gedenktag wieder Politiker und Verbände Konsequenzen aus dem Blutbad an. Der Erfurter Oberbürgermeister Andreas Bausewein (SPD) kritisierte, vieles, was damals diskutiert wurde, sei vergessen. Das Schulsystem habe sich nicht geändert. Es müsse aber mehr getan werden, damit Schüler lernten, Konflikte gewaltfrei zu bewältigen.
Dagegen betont Ministerpräsident Dieter Althaus (CDU), Thüringen habe wichtige Lehren aus dem Blutbad gezogen. Das Waffenrecht und das Jugendschutzgesetz seien verschärft und der Medienschutz verbessert worden. Zudem sei im Freistaat der obligatorische Realschulabschluss nach der zehnten Schulklasse eingeführt worden. »Die Debatte hat vor allem die Aufmerksamkeit in allen gesellschaftlichen Bereichen erhöht, isolierte Menschen zu erkennen und ihnen Hilfe anzubieten«, meinte der Regierungschef.
Kurz nach dem Verbrechen war bei 41 Prozent der damals mehr als 700 Schüler eine teils schwere Traumatisierung festgestellt worden. Derzeit sind nach Angaben der Unfallkasse noch immer 31 Menschen in Behandlung. Die Kasse hat bislang 4,7 Millionen Euro für Therapien sowie Witwen- und Waisenrenten gezahlt.
»Viele der Traumatisierten leiden bis heute unter Störungen«, konstatiert die Trauma-Therapeutin Alina Wilms. »So verkriechen sich manche zu Silvester, weil der Krach der Böller in ihnen das Knallen der tödlichen Schüsse vom 26. April 2002 wachruft. Andere reagieren panisch auf den Anblick schwarz gekleideter Menschen, weil sie das an den Täter erinnert.«
Etliche Betroffene haben nach Erfahrung der Therapeutin nach jenem Schock ein generelles Misstrauen gegen alles und jeden entwickelt. »Deshalb ist es für sie doppelt bitter, dass es nach dem Massaker kaum nennenswerte politische Konsequenzen gegeben hat«, moniert die Psychologin, die nach dem Massaker die psychologische Betreuung traumatisierter Schüler und Lehrer geleitet hatte.

Artikel vom 26.04.2007