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Mehr wissen, haben und erleben
Indiens junge hungrige Bevölkerung: Jeder Dritte zählt weniger als 20 Jahre -ÊFernblick vom alten Europa
Eine Milliarde. 1,1. 1,2. 1,3 Milliarden. Zur Jahrhundertmitte sind es 1,6. Bald wird Indien den Nachbarn China als bevölkerungsreichstes Land überholen. Doch wie stellt man sich eine Milliarde vor? Als überfülltes Schiff, das untergeht? Als Berg von Hungerleidern? Als Flut, die alles zudeckt?
Mit 350 Menschen pro Quadratkilometer zählt Indien zu den am dichtesten bevölkerten Regionen. In Deutschland leben auf gleichem Raum 230 Menschen. Doch die Statistik verschweigt: Der Subkontinent ist fruchtbar. Selbst Indiens armer Nachbar Bangladesch kann sich grundsätzlich in normalen Jahren selbst ernähren.
Das Wort »Überbevölkerung« jedoch klingt bedrohlich. Nach Naturgewalt, vor der man sich nicht schützen kann. Nach einer Masse, die die Natur ihrer Rohstoffe und Energien beraubt. Nach einem Moloch, der alles verschlingt. Zurück bleibt nur ein riesiger Müllberg.
Solche Bilder gibt es, auch in Indien. Sie treten aber in den Hintergrund, sobald man den Fokus verändert. Sobald der Einzelne die anonyme Masse verlässt, entsteht ein neues, viel reicheres Bild.
Indien ist jung.
Jeder dritte Bewohner zählt weniger als 20 Jahre. Zugegeben, das hängt nicht nur an der Geburtenrate. Das liegt auch an der niedrigen Lebenserwartung. Erst langsam schiebt sie sich über die 60-Jahre-Grenze.
»Young India« - das junge Indien - sieht und klingt anders als das »alte Europa«. Aus dem Mund des früheren US-Verteidigungsministers Donald Rumsfeld konnte dieses Wort die Deutschen nicht wirklich treffen. Da wirkt die Bush-Administration selbst viel zu alt. Und doch, wir wissen es, vergreist Europa. Speziell hier grassiert die Angst vor einem »Methusalem-Komplott«: Menschen jenseits der 50 oder gar 60 bestimmen bald allein aufgrund ihrer großen Zahl die politischen Entscheidungen. Bis 2050 wird die Zahl der über 60-Jährigen um zehn Millionen steigen. Dagegen wird die Altersgruppe der unter 20-Jährigen um acht Millionen und die der 20- bis 59-Jährigen um 16 Millionen sinken. 2050 werden in Deutschland mehr Menschen leben, die 60 Jahre und mehr zählen als Junge unter 20.
Indiens Bevölkerung ist -Êauch im Vergleich mit anderen asiatischen Ländern wie Japan und China -Ênicht nur an Lebensjahren jung. Jung ist Indien vor allem, weil die Bevölkerung neugierig ist. Sie brennt darauf, mehr zu wissen, mehr zu haben, mehr zu erleben. Sie brennt von der Unterschicht bis teilweise zur Spitze auf Veränderung und Verbesserung. »Second Life«, das Spiel, bei dem Menschen im Internet ein zweites Leben führen, braucht »der« Inder nicht: Sein erstes Leben bietet genug Spannung. Das Bruttosozialprodukt beispielsweise wächst jährlich um etwa acht Prozent. In Indien werden 40 Automarken montiert. Die Auswahl der Fernsehprogramme ist so groß wie in Deutschland.
»Ich will mal später am Computer arbeiten«, sagt der zehnjährige Dilip, der in Delhi die Schule besucht. »In ein paar Jahren werden wir Weltmeister«, erklären vier Jungs, die in Mysore auf der Straße Kricket spielen. Die kleine Roshanara träumt in Kolkata stattdessen von einer siegreichen Teilnahme an »Pop Idol«, dem indischen Pendant von »Deutschland sucht den Superstar«. »Sing uns ein deutsches Lied« bittet Kalpana mit einem neugierigen Lächeln. Die seit einem Unfall behinderte junge Frau lernt in einer katholischen Schule in Trivandrum Nähen. Und die neunjährige Usha kündigt an: »Wenn ich groß bin, musst du mir Deutschland zeigen.« Usha hat beim Tsunami ihre Eltern verloren. Sie lebt in Kanyakumari an der Südspitze des Subkontinents in einem Waisenhaus, das mit Hilfe deutscher Spendengelder errichtet worden ist.
Träume sind Reichtum. Wer nicht träumt, ist arm dran. Mit »Bollywood« verfügt Indien in Mumbay, dem früheren Bombay, über die zweitgrößte Traumfabrik der Welt. Die Zeiten, da sich die Film-Liebenden nur verschämte Blicke zuwarfen, sind vorbei. Am Strand, beim Spaziergang durch den Zoo oder im Kino halten sich junge Liebende in aller Öffentlichkeit an den Händen.
Wenn das Mahatma Gandhi erleben würdeÉ Der Apostel der Gewaltfreiheit, der einer Zeitschrift seiner Kongresspartei den Namen »Young India« gab, verschrieb sich im mittleren Alter selbst einem Leben in sexueller Abstinenz. Bei einer internationalen Studie über die Häufigkeit von Geschlechtsverkehr landete Indien dagegen vor kurzem unter 26 Staaten auf Platz 3. Es geschieht also einiges, damit »young India« jung bleibt.
Deutsche behaupten gern: Man ist so jung, wie man sich fühlt. Richtiger ist vermutlich: Man ist so jung wie die Menschen, mit denen man sich umgibt und zusammenlebt. So gesehen ist Indien -Êtrotz der großen Probleme, die es auch hat -Êein richtiger Jungbrunnen. Bernhard Hertlein

Artikel vom 05.05.2007