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Opfer nach Urteil entsetzt

Fünf Jahre Haft wegen 376-fachen Kindesmissbrauchs

Kassel (dpa). Susanne wird blass, als sie das Urteil des Kasseler Landgerichts wegen Kindesmissbrauchs gegen ihren Stiefvater hört. »Ich bin entsetzt, völlig entsetzt.«

Das Gericht hat den 57-jährigen Arbeitslosen am Freitag zu fünf Jahren Haft verurteilt - ein halbes Jahr mehr als von der Verteidigung beantragt, zwei Jahre weniger als von der Anklage gefordert. 376 Mal soll der Angeklagte Susanne, ihre Stiefschwester Angelika und ihren Bruder Norbert sexuell missbraucht haben. Das sind zumindest die Fälle, die nachweisbar und noch nicht verjährt sind. Die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft hatten ergeben, dass die drei Kinder mehr als 4000 Mal Opfer des Familienvaters wurden.
»Die Zahl der Fälle ist in der Tat ungewöhnlich. Wir haben es mit einer absoluten Ausnahme zu tun«, räumte auch der Pflichtverteidiger ein. Der Staatsanwalt wurde deutlicher und sprach von »ritualisiertem Kindesmissbrauch«: »Nach dem Mittagsschlaf musste ihm jeweils ein Kind einen Kaffee ans Bett bringen. Der anschließende Missbrauch war Teil dieses Rituals.« Susanne, die Stieftochter, hatte vor Gericht ausgesagt, die Kinder seien zum Teil dreimal am Tag missbraucht worden, »jeder war mal dran«.
»Ich war drei oder vier, als es losging«, sagte Susanne. Ihr Stiefvater habe ihr gedroht, sie erpresst, ihr zugeredet - »und dann fing er an«. 13 Jahre sei das so gegangen, doch über den Missbrauch gesprochen habe sie erst Jahre danach. Ihre Stiefschwester Angelika war so traumatisiert, dass die Ermittler sie höchstens zehn Minuten am Stück und nur bei laut laufendem Fernseher vernehmen konnten. »Ich leide noch unter psychogenen Krampfanfällen, arbeiten kann ich sowieso nicht mehr«, sagte die 30-Jährige.
Die Mutter sagte aus, sie habe ihren damaligen Mann einmal nackt im Bett ertappt, eine Tochter davor. »Mir hat er gesagt, ich sei Schuld. Wenn ich ihm mehr zu Willen wäre, müssten ja nicht die Kinder ran.« Zur Polizei ging sie dennoch nicht.
Die Richter hielten dem Angeklagten sein Geständnis, seine Alkoholsucht (»ein bis zwei Flaschen Bacardi am Tag«) und seine Kindheit zu Gute. Als Junge sei er selbst Opfer sexueller Gewalt geworden. »Außerdem hat er trotz seiner problematischen Lebensverhältnisse keine Straftaten begangen. Diese Entgleisung war wohl die Suche nach Macht«, sagte ein Richter. Eine Erklärung, die Susanne nicht reicht: » Nur fünf Jahre? Wir leiden heute noch und werden es unser Leben lang tun.«

Artikel vom 21.04.2007