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Lebendige Gemeinden sind selten

Der Anteil der Christen schrumpfte in 90 Jahren von 30 auf 0,2 Prozent

Königstein (WB/rb). In 90 Jahren ist das Christentum in der Türkei von 30 Prozent auf 0,2 Prozent geschrumpft. Das Hilfswerk »Kirche in Not« beobachtet mit Sorge die Entwicklung. Professor Rudolf Grulich hofft, dass es nicht noch weniger werden.
Nach dem Völkermord an den Armeniern und dem 1923 verhandelten Bevölkerungsaustausch zwischen Muslimen aus Griechenland und orthodoxen Christen gab es nur noch ganz wenige »sichere Gebiete«: Istanbul, die Prinzeninseln und auf zwei Inseln am Eingang der Dardanellen.
Türkei-Experte Grulich zählt aktuell gut 100 000Ê Armenier, einige tausend Griechen, dazu einige zehntausend syrische Christen sowie Lateinern, das heißt Katholiken des lateinischen Ritus. Allein die Arbeit einiger Freikirchen verzeichnet derzeit noch Zuwächse. Die etablierten Kirchen taufen nur noch wenige Türken und andere Muslime.
Nach dem Mord an dem katholische Priester Andrea Santoro 2006 und Bedrohungen anderer Priester wurde Grulich gefragt, ob auch angesichts des Polizeischutzes für den katholischen Bischof für Anatolien, Luigi Padovese, noch von »Einzelfällen« gesprochen werden könne. Grulichs Antwort: »Der ermordete Priester in Trabzon, den ich noch im Herbst 2005 besuchen durfte, hätte sicher von Einzelfällen gesprochen. Ich war beeindruckt, wie offen er über seine schwierige Arbeit sprach. Sein junger Mörder wurde zu 29 Jahren Gefängnis verurteilt.« Ein anderer Priester, der in Sinop angegriffen wurde, habe sogar im türkischen Fernsehen den Missionsvorwurf widerlegen können. »Vielleicht hat das dazu geführt, dass plötzlich Islamisten den Überfall auf ihn verübt haben.«
Jedesmal wenn Grulich katholische Pfarrer besucht, fragt er, wie viele Türken beziehungsweise Muslime sie tauften. Genannt würden meist zweistellige Zahlen pro Jahr. Wenn Konvertiten Probleme hätten, dann in den Familien, aber nicht von Seiten des Staates.
Wichtig sei, dass Christen, die in die Türkei reisen, auch die christlichen Kirchen besuchten, gibt Grulich den zahlreichen deutschen Touristen mit auf den Weg. »Das ist ganz, ganz wichtig - vielleicht noch wichtiger als ein Besuch in den letzten katholischen Kirchen Moskaus oder Leningrads vor der Wende.« Bischöfe, Priester und Laien hätten ihm das immer wieder bestätigt, so Grulich.
»Ich wundere mich, dass selbst deutsche katholische Reisebüros in Hotels gehen, statt die Glaubensbrüder zu unterstützen.« Der Professor warnt entschieden davor, die Türkei und ihr Christentum oft nur noch rein archäologisch zu sehen.
Grulich: »Als Historiker schätze ich zwar die Geschichte, aber die lebendigen Gemeinden besuche ich lieber als irgendwelche Steine, auf denen einmal der Apostel Paulus gesessen hat.«

Artikel vom 20.04.2007