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Unberührbarkeit auf dem Rückzug

Dalits gehen in Indien ihren Weg

Trivandrum (WB/in). Eine kleine Notiz in der Zeitung »The Hindu«: Vier Dalits sind bei einem Angriff auf ihre Hochzeitsgesellschaft verletzt worden. Die übrige Bevölkerung fühlte sich von ihnen »gestört«.
Straßenreinigung war traditionell eine Aufgabe der »Unberührbaren«.

Den Namen »Dalits« gaben sie sich selbst. Besser bekannt ist diese indische Bevölkerungsgruppe im Westen als »Kastenlose«, »Parias« oder »Unberührbare«. Im Bestreben, die Gesellschaft zu einen, nannte Mahatma Gandhi sie in den dreißiger Jahren Harijans -Êdas heißt »Kinder Gottes«. Es war mit das Verdienst des Vaters der indischen Unabhängigkeit, dass die einstigen Unberührbaren heute wie jeder andere Hindu den Tempel besuchen dürfen.
Vorher durften sie in manchen Regionen nicht einmal in den Schatten eines Brahmanen treten, geschweige denn, ihn berühren. Öffentliche Einrichtungen wie beispielsweise der Dorfbrunnen waren für sie tabu.
Auf den ersten Blick scheint es, als sei die »Unberührbarkeit« in Indien auf dem besten Weg, wie zuvor die Apartheid in Südafrika aus dem menschlichen Vokabular getilgt zu werden. Gesetzlich verboten war sie schon zu Zeiten der britischen Kolonialherrschaft. Heute ist sie auch praktisch nicht mehr lebbar -Êmindestens nicht in der Großstadt.
Wie soll der Brahmane, der in einem vollbesetzten indischen Bus Platz nimmt, ohne peinliches Fragen auch wissen, welcher Kaste sein Sitznachbar angehört? Wie in einem Supermarkt? Oder im Hörsaal einer Universität?
Auch durchaus kritische Geister wie der aus Kerala stammende Schriftsteller Paul Zacharia, der im Oktober im Zuge der Frankfurter Buchmesse auch nach Bielefeld zu einer Autorenlesung gekommen war, oder die ebenfalls in Keralas Hauptstadt Trivandrum lebende katholische Oberin Schwester Rehmas stellen übereinstimmend fest: »Die ehemaligen Kastenlosen werden im heutigen Indien sogar bevorzugt.« Das stimmt, wenn man die für sie reservierten Studienplätze und Jobs im öffentlichen Dienst betrachtet. Diese Art »positive Diskriminierung« hat dazu geführt, dass viele Dalits heute in Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur sehr erfolgreich sind.
Trotzdem: Wer aufmerksam die Zeitung liest, Heiratsstatistiken studiert oder auch nur sieht, wie hellhäutige Hindus über Menschen die Nase rümpfen, die am Straßenrand leben, im Dreck wühlen oder ganz offensichtlich nicht so gebildet sind, wird feststellen, dass bis zur Verwirklichung von Mahatma Gandhis von Liebe und Humanität geprägter Idealgesellschaft auch in Indien noch ein weiter Weg zurückgelegt werden muss.

Artikel vom 05.04.2007