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Pflegemutter kämpft um Baby

Familie traut leiblichen Eltern Versorgung eines Säuglings nicht zu

Von Christian Althoff
Bielefeld (WB). Eine Pflegemutter aus Ostwestfalen ist vor einem Familiengericht mit ihrem Antrag gescheitert, ein sechs Monate altes Mädchen nicht an die leiblichen Eltern herausgeben zu müssen. »Ich bin vor Gericht gezogen, weil ich um die Gesundheit des Babys fürchte«, sagt die Frau.

Ein kleiner Ort in Ostwestfalen-Lippe. Erzieherin Silvia W. (40) und ihr Mann Helmut (44) leben zusammen mit ihren vier Kindern in einem großen Haus mit Garten. Seit 2005 steht das Ehepaar dem Kreisjugendamt als Bereitschaftspflegefamilie zur Verfügung. Wenn die Behörde von jetzt auf gleich ein Kind unterbringen muss, weil etwa beide Elternteile erkrankt sind oder ein Kind zu seinem Schutz aus der leiblichen Familie genommen worden ist, steht Familie W. bereit. Fünf Jungen und Mädchen sind bislang von dem Ehepaar betreut worden. Einige blieben nur ein paar Tage, andere ein paar Wochen. »Es gab nie Probleme mit dem Jugendamt«, sagt Silvia W. »Bis wir Lisa bekamen.«
Es war im Dezember, als Polizisten das drei Monate alte Mädchen in einer verwahrlosten Wohnung entdeckten und das Jugendamt alarmierten. Ein paar Stunden später hielt Silvia W. das kleine Bündel in Händen. »Lisa war apathisch und hatte ein graues, eingefallenes Gesicht. Ihr Hinterkopf war flach - als wenn sie immer nur auf dem Rücken gelegen hätte. Das Mädchen trug schmutzige Wäsche und war ungepflegt. Die Jugendamtsmitarbeiterin übergab mir zwei Pakete Brei, die aus der Wohnung der Eltern stammten und eigentlich für Kinder vom fünften Monat an gedacht waren. Später wurde mir gesagt, die Mutter des Kindes sei psychisch krank.«
Beim Baden des Mädchens bemerkte die Pflegemutter, dass Lisa sehr zierlich war: »Ihr fehlten die üblichen Baby-Speckfalten, und sie hatte erhebliche Schwierigkeiten, den Kopf selbständig zu halten. Später haben wir festgestellt, dass sie in Bauchlage den Kopf überhaupt nicht heben konnte.« Zudem habe der zwölf Wochen alte Säugling schwerste Hustenanfälle gehabt.
Am nächsten Morgen fuhr Silvia W. mit dem Mädchen zu einer Krankengymnastin. »Das Geld musste ich auslegen, weil Lisas Eltern nicht wussten, wo die Krankenversicherungskarte ihrer Tochter war. Auch der Mutterschaftspass war nicht aufzutreiben.« Die Krankengymnastin beschrieb das Kind in ihrem Attest als »verwahrlost, mit wenig Reizen versorgt und motorisch nicht altersgemäß entwickelt«. Als Ursache des Hustens vermutete die Frau eine stark verrauchte Umgebung, eine Kinderärztin diagnostizierte später tatsächlich eine »schwere obstruktive Bronchitis« - eine Erkrankung, die oft durch Zigarettenrauch ausgelöst wird.
Silvia W. stellte das Kind auf altersgemäße Flaschennahrung um und machte die Übungen mit Lisa, die ihr von der Krankengymnastin empfohlen worden waren. »Die Kleine entwickelte sich gut«, erinnert sich Kaufmann Helmut W. »Lisa nahm zu, lachte viel und suchte schließlich auch unseren Augenkontakt. Vorher war sie nur auf den Fernseher fixiert.«
Die leibliche Mutter habe sich nie gemeldet, habe nie nach ihrer Tochter gefragt, erzählt Silvia W. Nach vier Wochen stand dann das erste Treffen der Eltern mit ihrem Baby im Jugendamt an. Silvia W.: »Ich hatte erwartet, dass die Mutter sich freut. Aber sie wollte das Kind überhaupt nicht auf den Arm nehmen.« Das habe dann der Vater getan. Als das Kind bei ihm geschrien habe, habe die Mutter erklärt, sie ertrage das nicht.
Nachdem der zweite Besuchstermin ähnlich abgelaufen sei, sei sie zu der Überzeugung gelangt, dass Lisa nicht mehr zu ihren leiblichen Eltern zurück dürfe: »Wenn eine angeblich psychisch kranke Frau ihr drei Monate altes Baby verwahrlosen lässt, falsch ernährt und ihr eine vierwöchige Trennung von dem Säugling offenbar überhaupt nichts ausmacht - was erwartet das Kind dann in den kommenden Monaten und Jahren?«, fragt die Frau. Als das Jugendamt Lisa nach drei Monaten zurück zu ihren Eltern brachte, stellte Silvia W. deshalb beim örtlichen Familiengericht einen »Antrag auf Verbleib in der Pflegefamilie«. Helmut W.: »Uns ging es nicht darum, Lisa auf Dauer behalten zu dürfen. Schließlich haben wir genug mit unseren eigenen vier Kindern zu tun. Wir wollten nur verhindern, dass ihr bei ihren Eltern etwas passiert!«
Das Jugendamt ist hingegen der Überzeugung, dass sich die Eltern mit entsprechender Unterstützung und Kontrolle der Behörde sehr wohl um ihre Tochter kümmern können, und auch das Gericht stellte klar, dass der Schutz der Familie im Grundgesetz verankert sei und Kinder, wenn eben möglich, zu ihren Eltern gehörten. Ein Kind habe nunmal kein Recht auf ein perfektes Elternhaus.
Silvia W.: »Obwohl wir vor Gericht unterlegen sind, sind wir froh, diesen Schritt getan zu haben. Denn was auch immer mit Lisa passieren wird: Wir werden uns nie vorwerfen müssen, nicht alles versucht zu haben.« * Aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes sind alle Namen geändert worden.

Artikel vom 31.03.2007