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Unschlüssig standen sie einander gegenüber.
»Diese FrauÉ Liz Alby hat mich heute Mittag angerufen«, sagte Frederic. »Sie wollte sagen, wie sehr sie sich freut, dass wir unsere Kim zurückbekommen haben. Sie geht mit dem Vater ihrer Tochter nach Spanien.«
»Sie macht Urlaub?«
»Sie wandern aus. Sie wollen es noch einmal miteinander versuchen, sagte sie mir. In einem anderen Land. Ganz neu anfangen. Sicher eine gute Entscheidung.«
»Weitergehen«, sagte Virginia, »das ist immer die einzige Möglichkeit, nicht? Um das Schicksal irgendwie zu ertragen.«
Sie lachte, ohne dabei im Geringsten fröhlich zu wirken.
»Wir versuchen jetzt alle, die vielen Scherben aufzuheben. Vielleicht sogar, sie zu kitten, wenigstens teilweise. Aber da sind zwei tote Kinder. Und zwei, die beinahe gestorben wären. Das ist nichts, was jemals heilt.«
»Und da sind wir«, sagte Frederic.
»Ja. Und weißt du, was das Schlimme ist? Wir sind nicht mehr einfach wir. Wir sind unauflösbar mit unserer Schuld verbunden. Für immer.« »VirginiaÉ«


S
ie schüttelte heftig den Kopf. Ihr Gesicht war blass. »Beinahe, Frederic, beinahe wäre es wieder geschehen. Genau das Gleiche wie damals. Vor elf Jahren ist ein kleiner Junge gestorben, weil ich vergnügungssüchtig und leichtsinnig war und nicht aufgepasst habe. Und diesmal wäre fast mein eigenes Kind gestorben. Weil ich wieder einmal nur an mich dachte. Weil ich nicht da war. Weil es mir um andere Dinge ging. Es ist einÉ verdammter roter Faden in meinem Leben!«
Sie tat ihm leid. Kaum je hatte er sie so verzweifelt erlebt. Er hätte sie gern in die Arme genommen, wagte es aber nicht.



I
ch könnte es mir jetzt leicht machen«, sagte er, »und dir außer zu deiner Affäre mit Nathan Moor, mit der du mir fast die Seele in Fetzen gerissen hast, auch noch die Schuld wegen Kim aufbürden. Soll doch deine Seele auch in die Brüche gehen! Aber es wäre nicht fair. Und es wäre nicht wahr. Du warst nicht pflichtvergessen an jenem Nachmittag. Es hatten sich nur alle Umstände verschworen. Gegen dich, gegen Kim, gegen uns. Und das hätte bei jeder anderen Gelegenheit auch passieren können. Verstehst du? Ein unvorhergesehener Zahnarzttermin. Ein kaputtes Auto. Ein verknackster Fuß. Tausend Dinge hätten es jederzeit, an jedem Tag verhindern können, dass du Kim von der Schule abholst. Lass eine grippekranke Grace dazukommen und die Konstellation, dass sie den Auftrag an ihren Mann weiterzugeben versucht. Schon hast du die gleiche Geschichte. Es ist keine Frage von Schuld. Es ist eine Frage von Pech. Vielleicht auch von Schicksal. Aber nicht von
Schuld.«
»AberÉ«

E
r unterbrach sie: »Lass endlich den kleinen Tommi los, Virginia. Er verdunkelt dein Leben seit elf Jahren. Buchstäblich. Vor ihm bist du hinter diese Mauern, unter diese düsteren Bäume geflohen. In der Hoffnung, ihn im Dämmerlicht nicht mehr so genau zu sehen. Lass ihn los. Es ist geschehen. Es ist nicht mehr zu ändern.«
Sie merkte nicht, dass sie zu weinen begann. Lautlos rollten ihr die Tränen über die Wangen.
»Der kleine TommiÉ«, begann sie. Brach dann ab und ließ den Kopf sinken. »Ich kann das nie vergessen«, flüsterte sie, »nie.«
»Vergessen nicht«, sagte Frederic, »aber akzeptieren. Als etwas, das in deinem Leben geschehen ist. Etwas anderes bleibt dir gar nicht übrig.«


S
ie wischte sich die Tränen ab, starrte auf ihre nassen Hände. Plötzlich dachte sie: Ich habe eben zum ersten Mal um Tommi geweint. Zum ersten Mal seit elf Jahren. Seitdem es geschehen ist.
»Michael«, sagte sie und räusperte sich, weil ihre Stimme so belegt war. »Ich muss Michael finden, Frederic. Ich weiß nicht, ob er noch lebt, wo er sich aufhält, was aus ihm geworden ist. Aber du hattest Recht, als du sagtest, dass ich nur dann in Frieden leben kann, wenn ich wenigstens einen Teil meiner Schuld abtrage. Ich muss ihm sagen, dass er es nicht war, der damals das Auto unverschlossen hat stehen lassen. Sondern ich. Er soll wissen, dass ihn keine Schuld trifft an Tommis Tod.«
»Wenn du möchtest«, sagte Frederic, »helfe ich dir, ihn zu finden.«
Sie nickte.


D
ann sahen sie einander wieder schweigend an. In den vergangenen Tagen, in denen sie um Kim gebangt und gezittert hatten, war nicht die Zeit gewesen, über ihrer beider Situation zu sprechen. Beide wussten, dass nichts mehr so war wie früher und dass es nie wieder so sein konnte. Aber wie es weitergehen sollte, davon hatten sie keine Ahnung. Sie ahnten, dass es nicht der Moment war, dies zu klären, dass Zeit vergehen musste, ehe jeder von ihnen den Weg würde sehen können, den er gehen wollte. Ob es ein gemeinsamer Weg sein würde, das konnten sie jetzt noch nicht erkennen.

F
rederic trat neben Virginia, und beide sahen sie zum Fenster hinaus. Im Spiegelbild der dunklen Scheibe konnten sie einander schattenhaft wahrnehmen. Die hohen Bäume, die das Haus so eng umschlangen, waren nicht zu sehen.
Ich möchte nicht mehr in der Dunkelheit leben, dachte Virginia. Und vielleicht sollte ich endlich einmal in einem Beruf arbeiten.
Alles muss anders werden. Mein Leben muss anders werden.
Sie sah nicht mehr ihr Bild in der Fensterscheibe. Sie sah andere Bilder, die sie mit Sehnsucht erfüllten, die sie traurig stimmten, weil sie der Vergangenheit angehörten. Und die ihr dennoch eine Richtung gewiesen hatten, die es wert sein mochte, verfolgt zu werden.

W
ie aus weiter Ferne vernahm sie Frederics Stimme neben sich. »Hast du gerade an Nathan Moor gedacht?«, fragte er. Er musste sie beobachtet und die Melancholie in ihrem Gesicht erkannt haben.

S
ie schüttelte den Kopf. »Nein. Ich habe nicht an Nathan Moor gedacht.«
Sie fragte sich, ob er ihr glaubte.
Nicht die Erinnerung an Nathan Moor war es, was sie für immer in sich tragen würde, nicht die Erinnerung an seine Person.
Sondern die an zwei Septembertage auf Skye.
An den eisblauen Himmel über Dunvegan.
Und an den kalten Wind, der vom Meer kam.

(ENDE)

Artikel vom 04.05.2007