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Virginia schüttelte heftig den Kopf. »Ich darf darüber nicht nachdenken. Nicht eine Sekunde. Ich werde sonst verrückt! Wir haben solches Glück gehabt, Nathan. Sie weinte vor Durst, war völlig entkräftet und unter Schock, aber sie lebt. Sie erholt sich. Ich kann gar nicht genug beten und danken.«
»Grace Walker hatte keine Ahnung?«
»Offenbar wirklich nicht. Diese Geschichte hat sie wie ein Blitz aus heiterem Himmel getroffen. Sie ist daran zerbrochen. Sie wird sich nie mehr erholen.«
Nathan nickte nachdenklich.
Dann, übergangslos, fragte er: »Und was wird aus uns?«
Noch wenige Minuten zuvor hätte Virginia diese Frage empörend gefunden. Nun empfand sie nur Traurigkeit. Und darauf zu antworten machte sie auf eine seltsame Art müde.
»Ich habe es dir vorhin schon gesagt«, erwiderte sie. »Uns gibt es nicht mehr so, wie es war.«

Wegen meines Anrufs? Wegen dieses einen idiotischen Fehlers, der mir zutiefst leid tut, den ich, wenn es nur irgendwie ginge, sofort ungeschehen machen würde?«
Ja. Und nein. Sie fragte sich, ob sie ihm klarmachen konnte, was in ihr vorging.
»Es war ein Schock, herauszufinden, dass du dieser Anrufer warst«, sagte sie, »dass du meine - unsere - abgrundtiefe Angst und Verzweiflung zu deiner persönlichen Bereicherung nutzen wolltest. Aber was außerdem zählt, ist, dass ich dich irgendwieÉ in diesem Moment zum ersten Mal so gesehen habe, wie du wirklich bist. Es war, als ob ein Vorhang beiseite geschoben wurde, und da standest du als ein Mann, den ich bis dahin ganz anders wahrgenommen hatte - oder anders hatte wahrnehmen wollen.«
»Und dieser Mann gefiel dir nicht?«
»Ich empfand ihn als unberechenbar. Undurchsichtig. Da war auf einmal so vieles, was ich nicht miteinander in Einklang bringen konnte.«
»Du möchtest diesen Mann nicht kennenlernen? Vielleicht würde sich manches relativieren?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Ich möchte diesen Mann nicht kennen lernen.« Sie atmete tief. »Es ist vorbei, Nathan. IchÉ kann nicht mehr. Es ist einfach vorbei.«
Die Worte dröhnten in dem Schweigen, das die Küche minutenlang ausfüllte.
Schließlich barg Virginia das Gesicht in den Händen. »Es tut mir leid«, flüsterte sie, »ich kann wirklich nicht.«
Wieder herrschte Schweigen.
»Okay«, sagte Nathan schließlich, »das muss ich hinnehmen.«
Sie hob den Kopf. »Was wirst du nun tun?«

Er zuckte mit den Schultern. »Erst einmal vor Ort warten und mich zur Verfügung halten, wie Superintendent Baker gesagt hat. Und dannÉ kehre ich nach Deutschland zurück. Vielleicht schaffe ich es von dort aus doch noch, einen Schadensersatzprozess wegen meines Schiffs anzustrengen. Wenn es mir gelingt, dabei eine größere Summe zu erstreiten, habe ich auf jeden Fall Zeit gewonnen. Ich werde schreiben. Vielleicht erscheint ja doch eines Tages noch mal ein Buch von mir!«
»Ich wünsche es dir.«
Er trat noch näher an sie heran, zögerte, hob die Hand, und als er merkte, dass sie nicht zurückwich, strich er ihr ganz rasch und zärtlich über die Wange. »Du bist mir noch etwas schuldig.«
»Was denn?«
»Das Ende deiner Geschichte. Diese Geschichte, von der du mir gesagt hast, dass an ihrem Ende eine große Schuld steht. Das letzte Kapitel fehlt.«
»Ich habe es Frederic erzählt.«
»Oh«, sagte Nathan überrascht, »ausgerechnet Frederic?«
»Ja.«
»Dann werde ich es wohl nie erfahren.«
»Nein.«
»Du bleibst bei Frederic? Er verzeiht dir und schließt dich wieder in die Arme?«
»Nathan, das ist alles nicht mehr deine Angelegenheit.«
»Gott im Himmel«, sagte Nathan, »du kannst erbarmungslos sein, wenn du fertig bist mit einem Menschen.«
»Ich versuche, ehrlich zu sein.«
»Ja, dannÉ«, meinte Nathan, »ist es jetzt wohl an der Zeit für mich, zu gehen.«
»Du hast einen weiten Weg vor dir.«
Er seufzte. »North Wooton. Dort habe ich die billigste Unterkunft gefunden. Ich werde die halbe Nacht unterwegs sein.«
»Ich habe nicht nur diesen Weg gemeint.«

Jetzt lächelte er. Nicht mehr das emotionslose Lächeln, das er bei seinem Eintritt in die Küche getragen hatte. Jetzt war es das Lächeln, das Virginia einmal in seinen Bann gezogen hatte. Und wenigstens ein bisschen vermochte sie sich selbst in diesem Moment zu vergeben: Es war ein Lächeln voller Versprechungen, voller Wärme und voll erotischer Kraft. Er schien sein Gegenüber zu umarmen mit diesem Lächeln. Wahrscheinlich war es unecht und kalkuliert, in seiner Wirkung haargenau berechnet.
Aber es ist einfach verdammt gut gemacht, dachte sie.
»Ich weiß«, sagte er, »dass du nicht nur diesen Weg gemeint hast. Ja, dannÉ ist es wohl an der Zeit, dass wir uns auf Wiedersehen sagen?«
Sie erhob sich, ging zur Küchentür, öffnete sie. »Es ist an der Zeit«, bekräftigte sie.

E
r nickte, trat an ihr vorbei in den nun fast völlig dunklen Abend. Sie war dankbar, dass er nicht versuchte, sie zum Abschied zu küssen. Dass er sie nicht in die Arme nahm. Sie spürte einen entsetzlichen Schmerz. Trauer. Nicht um ihn. Aber um all die Versprechen, die in dem Neuanfang mit ihm gelegen hatten - und die ein Irrtum gewesen waren. Hätte er sie jetzt an sich gezogen, sie wäre in Tränen ausgebrochen. Auch wegen des Pullovers, den er trug und der nach Skye roch.
Als großer, langer Schatten stand er vor ihr. Er sah sie an. Im Mondlicht, das sich nur schwach seinen Weg durch die Bäume bahnte, konnte sie sein Gesicht erkennen. Seine Züge waren ihr so vertraut, dass sie ganz fest die Lippen aufeinander pressen musste, um nicht preiszugeben, wie sehr sie litt.
Und dann war er plötzlich wieder Nathan. Der Nathan, von dem Livia, ohne sich noch irgendeiner Illusion hinzugeben, gesagt hatte: Er denkt von morgens bis abends nur über Geld nach!

Der Nathan, der, so liebenswürdig, einfühlsam, attraktiv und sinnlich er auch sein mochte, doch immer in erster Linie sich selbst und seinen persönlichen Vorteil im Sinn hatte.
Ein Schnorrer, dachte Virginia, seltsam sachlich trotz der Traurigkeit des Moments. Ein ungemein begabter Schnorrer.
Er lächelte noch einmal sein entwaffnendes Lächeln.
»Ehe ich es vergesse, Virginia, mein Liebes: Könntest du mir wohl noch ein bisschen Geld leihen?«


2
Virginia stand am Wohnzimmerfenster und blickte in die Dunkelheit hinaus, als Frederic zurückkehrte. Sie hatte den Motor seines Wagens und seine Schritte gehört und erschrak daher nicht, als er sie ansprach. Er schlich sich nicht an wie Nathan. Frederic war klar und berechenbar.
»Ich bin wieder da«, sagte er. »Grace sitzt samt Katze im Zug. Sie konnte mir nicht mehr in die Augen sehen. Wie geht es Kim?«
Virginia drehte sich zu ihm um. »Sie schläft. Ich war oben bei ihr, habe nach ihr geschaut. Sie ist ganz friedlich. Ich habe im Augenblick nicht den Eindruck, als ob schlimme Träume sie plagten.«
»Ich fürchte trotzdem, dass späterÉ«
»Natürlich. Die Sache ist nicht ausgestanden. Aber Kim lebt, sie ist bei uns, und sie schläft. Für den Moment ist das unendlich viel.«
»Ja.«

E
r hatte beide Hände in den Taschen seiner Jeans vergraben. Virginia fiel zum ersten Mal auf, wie stark auch er in den letzten Tagen abgenommen hatte. Wohl nicht nur wegen Kim. Auch wegen ihr.
»Grace ist am Boden zerstört«, sagte er. »Ich glaube, ich habe nie einen verzweifelteren Menschen erlebt.«
»Hast du ihr noch einmal gesagt, dassÉ«
»Dass sie hier bleiben kann, ja. Aber sie will nicht. Sie erträgt es einfach nicht. Und das kann ich verstehen.«
»Jack Walker«, sagte Virginia, »hat über viele Menschen unfassbares Elend gebracht.«
»Er ist krank.«
»Ist das eine Entschuldigung?«
»Nein. Nur eine Erklärung.«
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 03.05.2007