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Versuchte Erpressung. Das ist ein Unterschied.«
»Für mich nicht.« Langsam gewann Virginia ihre Sicherheit zurück, und nun erwachte auch wieder die Wut in ihr. Wut auf alles, was er ihr getan hatte: sein Anruf nach Kims Verschwinden, aber auch die Lügen über seine angebliche Karriere. Die Schamlosigkeit, mit der er sich in ihrem Leben eingenistet hatte.
»Verschwinde!«, sagte sie. »Verschwinde einfach und geh deinen eigenen Weg. Lass mich und meine Familie in Ruhe!«
Beschwichtigend hob er beide Hände. Er konnte ihren Zorn spüren - aber auch die Enttäuschung, die er ihr zugefügt hatte. Sie mochte ihn hassen, aber in ihrem Hass schwangen noch viele verletzte Gefühle mit, und dies mochte ihm den Eindruck vermitteln, dass er ihr heftiges Verschwinde! für den Moment ignorieren durfte. »Virginia, ich würde gernÉ«
»Wieso bist du überhaupt draußen? Wieso lassen sie einen wie dich frei herumlaufen?«
»Wie ich schon sagte, als Täter komme ich ja wohl kaum mehr in Frage. Was die andere Geschichte betrifft - den Anruf bei euch -, war ich von Anfang an voll geständig. Ich darf bloß im Moment nicht das Land, nicht mal den Umkreis von KingÕs Lynn verlassen, und die Polizei will wissen, wo ich erreichbar bin. Aber für den Knast bin ich jetzt ein zu kleiner Fisch. Am Ende werde ich wohl mit einer Bewährungsstrafe davonkommen.«
»Dann ist für dich ja alles in Ordnung. Wozu musst du dann mich sehen?«

E
r schwieg einen Moment. »Weil zwischen uns etwas war, das nichts mit dieser ganzen Geschichte zu tun hat«, sagte er schließlich.
»Es war etwas. Aber es ist nichts mehr. Und deshalbÉ«
»Und deshalb möchtest du nicht einmal mehr mit mir reden? Virginia, es war mir so wichtig, dich zu sehen, dass ich mich heute Vormittag zu Fuß auf den Weg bis hierher gemacht habe und mich seither in diesem verdammten Park draußen herumdrücke, in der Hoffnung, dich für einen Moment allein sprechen zu können. Du sagtest, dein Mann kommt gleich zurück? Dann gib mir doch diese halbe Stunde, die wir vielleicht haben, und jage mich dann erst zum Teufel!«
»Ich kann auch die Polizei anrufen.«
Er zuckte mit den Schultern. »Klar kannst du das. Ich würde nicht versuchen, dich daran zu hindern.«
Plötzlich fühlte sie sich entwaffnet. Zu leer und zu müde, um mit ihm zu streiten. Zu erschöpft auch, ihn zu hassen. Mit schwerfälligen Bewegungen ging sie zum Tisch hinüber, setzte sich auf den Stuhl, auf dem Kim während des Abendessens gesessen hatte. »Eigentlich spielt das keine Rolle mehr. Was zwischen uns war und wie sehr du mich verletzt hast. Wichtig ist nur noch, dass Kim wieder bei uns ist.«
»Wie geht es ihr?«
»Schwer zu sagen. Sie redet wenig. Schläft viel und zeigt die Tendenz, sich zu verkriechen. Was nicht gut ist, und deswegen gehe ich morgen zu einem Therapeuten mit ihr. Körperlich ist alles in Ordnung, meint der Arzt. Und sie wurde tatsächlich nicht sexuell missbraucht. Gott sei Dank, wenigstens das nicht!«
Nathan schüttelte den Kopf. »Jack Walker! Dieser nette, ältere Mann! Wer hätte das gedacht?«
»Wenn ich mir vorstelle, dass ich während der letzten beiden Jahre Kim immer wieder einmal den Walkers anvertraut habe, wird mir ganz schlecht«, sagte Virginia. Sie bekam schon wieder eine Gänsehaut auf den Armen. »Aber es war nichts zu merken, nichts zu erkennen. Nie hätte ich geglaubtÉ« Sie hielt inne. Es war so unfassbar!
»Hat er sich früher schon an Kindern vergangen?«, fragte Nathan. »Oder sie gar getötet?«
Virginia schüttelte den Kopf. »Er behauptet, nein, und Superintendent Baker ist geneigt, ihm das zu glauben. Jack hat seinen Trieb früh erkannt und dann sein Leben praktisch damit verbracht, ihn zu bekämpfen. Er hat sich auf einschlägigen Internetseiten herumgetrieben und Fotos gehortet, das ja, aber er hat alles getan, sich von Kindern möglichst fern zu halten. Er war es auch, der darauf bestanden hat, dass Grace keine Kinder bekommen sollte. Und er hat sich um den Verwalterposten in Ferndale House beworben, um so einsam und abgeschieden wie möglich leben zu können. Er hatte wohl immer eine Ahnung, was sonst passieren könnte.«

N
athan, der immer noch neben der Tür gestanden hatte, trat einen Schritt näher. Er schien zu spüren, dass für den Moment keinerlei Aggressionen von Virginia ausgingen. Sie war gänzlich gefangen in der erschütternden Erkenntnis, sozusagen Wand an Wand mit einem gefährlichen Triebtäter gelebt und nichts davon bemerkt zu haben. »Und dann seid ihr mit Kim nach Ferndale gezogenÉ«
»Vor zwei Jahren. Für Jack eine Katastrophe. Praktisch täglich lief nun ein kleines Mädchen vor seiner Nase herum. Zu allem Überfluss sah auch noch Grace ihre Chance gekommen, wenn schon nicht eine Mutter, dann doch eine Ersatz-Großmutter sein zu dürfen. Sie holte Kim zu sich ins Haus, wann immer es ging. Jack merkte, wie nach und nach seine Sicherungen durchbrannten.«
»Was das Todesurteil für die anderen Kinder war.«
»Irgendwann brauchte er ein Ventil. Kim durfte es nicht sein, also sprach er andere kleine Mädchen an. Lockte Rachel Cunningham in eine Falle. Und schnappte sich Sarah Alby am Strand von Hunstanton. Er saß in demselben Bus wie sie und ihre Mutter und bekam mit, wie die Kleine um eine Karussellfahrt bettelte und schrie. Er folgte den beiden, und als Sarah für einige Zeit allein war, überredete er sie ohne jede Schwierigkeit, mit ihm zu kommen. Er stellte ihr einfach eine Karussellfahrt in Aussicht. Aber stattdessenÉ«
»Er ging recht bedacht vor.«
Ja. Er zerrte nicht, urplötzlich von seinen Trieben überwältigt, ein Kind von der Straße. Er ist, so verrückt das klingt, kein wirklich gewalttätig veranlagter Mensch. Er bereitete die Entführungen vor, sorgte dafür, dass sie vollkommen unauffällig vonstatten gingen. Die Kinder begleiteten ihn freiwillig und ohne jedes Aufsehen. Auch mit Janie Brown hat er es so versucht.«

D
ie Kleine, die ihn auf dem Friedhof erkannt hat«, sagte Nathan. Er war gut informiert. Die Zeitungen der letzten drei Tage waren voll gewesen mit der Geschichte.
»Der er eine Geburtstagsparty versprochen hatte. Es waren unglaubliche Zufälle, weshalb sie mit dem Leben davongekommen ist. Einmal konnte sie nicht zu dem vereinbarten Treffpunkt kommen, weil ihre Mutter krank war. Und einmalÉ«
»Ja?«
»Einmal habe ich sie wohl gerettet«, sagte Virginia. Sie lächelte, wirkte jedoch nicht glücklich. »Jack hat es Baker erzählt. An dem Tag, an dem ich in die Stadt fuhr, um ein Kleid zu kaufenÉ du weißt, für dieses Abendessen in LondonÉ«
»Ich weiß«, sagte Nathan.
»Ich ging vorher in einen Schreibwarenladen. Genau in den, in dem Jack und die kleine Janie Brown verabredet waren. Ich erinnere mich, dass der Ladenbesitzer ein kleines Mädchen beschimpfte, weil es ewig die Einladungskarten anschaute, aber keine kaufte. Ich weiß noch, wie betroffen sie war, und dass sie mir leid tat. Das war Janie Brown.«
»Und WalkerÉ«
»Éhatte mich hineingehen sehen und umgehend das Weite gesucht. Sonst hätte er Janie an diesem Tag mitgenommen.«
»Meine Güte«, meinte Nathan, »das Kind hat wirklich eine ganz Horde von Schutzengeln!«
»Sie hat am Sonntag Geburtstag«, sagte Virginia, »und ich werde die Party für sie ausrichten. In Ferndale. Ihre ganze Schulklasse kommt. Du hättest erleben sollen, wie sehr sie sich gefreut hat.«
»Das ist sehr großzügig von dir.«
»Ich bin ihr von ganzem Herzen dankbar. Ohne sie hätten wir Kim nicht wiederbekommen.«
»Warum hat er Kim nicht getötet?«

D
as hat er nicht fertiggebracht. Er kannte sie zu gut, sie stand ihm zu nah. So schrecklich fehlgesteuert er auch war, er war trotzdem ein Mensch, der zu seelischen Bindungen fähig war, und zu Kim hatte er eine echte Beziehung. Als Grace ihn an jenem Tag anrief und bat, Kim von der Schule abzuholen, wehrte er sofort voller Entsetzen ab und behauptete, noch viel zu weit von KingÕs Lynn entfernt zu sein. Er hatte Angst vor sich selbst. Aber dann konnte er doch nicht widerstehen und fuhr zur Schule. Natürlich stieg Kim sofort in sein Auto. Sie fuhren ein Stück, dann hielt er an. Er war verrückt vor Begierde und begann sie zu streicheln. Das war Kim unheimlich, sie wehrte ihn ab, wurde hysterisch. Jack war klar, dass sie uns, ihren Eltern, davon erzählen würde. Er konnte sie nicht mehr gehen lassen. Aber statt sie zu töten wie die anderen Mädchen, fuhr er sie hinaus zu diesem verlassenen Firmengelände, wo er vor ewigen Zeiten gearbeitet hatte. Er kannte sich dort aus. Er versteckte sie in einer Kiste, die er mit einem Bretterhaufen tarnte.«
»Was bald auch ihren Tod zur Folge gehabt hätte.«
»Ja. Aber er konnte es eben nicht eigenhändig tun.«
»Der Typ muss vollkommen irre sein«, sagte Nathan. »Wenn man sich überlegt, welcher Art von Sterben er Kim ausgesetzt hätteÉ«
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 01.05.2007