30.04.2007
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Immer wieder blieb er stehen, hielt den Atem an, versuchte erneut, das Geräusch zu orten. Voller Angst, es könnte verstummen, ehe er seine Quelle gefunden hatte.
Doch es hielt an. Leise, kraftlos.
Er erreichte das Ende des Gangs. Rechts und links befanden sich zwei Räume. Die Türen waren längst aus den Scharnieren gebrochen und lagen auf dem Boden.
W
Er keuchte. Das Kratzen war verstummt.
D
»Hier bist du«, sagte Stella. »Was machst du da?«
Auch Stella legte ihre Lampe zur Seite. Es ging viel einfacher und schneller mit ihrer Hilfe. Sie konnte einzelne Bretter abstützen, während er andere vorsichtig darunter hervorzog. Der Stapel lichtete sich.
»Da steht irgendetwas«, sagte Stella.
Sie holte sich ihre Lampe, richtete den Strahl auf den Gegenstand, der sich unter den Regalen verborgen gehalten hatte. »Eine Kiste!«, rief sie überrascht.
Baker merkte, dass es in seinen Ohren zu summen begann. Das kratzende Geräusch. Eine Holzkiste unter einem Stapel zuammengefallener Regale. Sein Instinkt, der ihm geraten hatte, nicht aufzugeben.
H
Kim Quentin lag auf einem Stapel Decken. Sie hatte die Beine angewinkelt, weil sie sie nicht ausstrecken konnte. Das Licht blendete sie, sie schloss sofort die Augen. Sie lebte.
Er hob den leichten, geschwächten Körper heraus. Er lag wie eine Feder in seinen Armen.
»Mein Gott«, hörte er Stella mit leiser Stimme murmeln, »wie gut, dass wirÉ« Sie sprach den Satz nicht zu Ende.
»Kim«, sagte Superintendent Baker und strich mit einer Hand behutsam über die feuchten, verklebten Haare des Kindes. »Kim, es wird alles gut.«
Kim schlug die Augen auf und sah ihn an. Ihr Blick war klar.
»Ich habe so furchtbaren Durst«, sagte sie.
Dienstag, 12. September
Virginia stand in der geöffneten Küchentür, atmete die Frische, die aus dem Park strömte. Über ihr bewegten sich leise die Äste der großen Bäume. Sie blickte nach oben, hätte so gern den Himmel im vergehenden Licht des Tages gesehen, aber das dichte Laub ließ es nicht zu. Verwundert fragte sie sich, weshalb sie das bisher nie bedauert hatte.
Sie fröstelte, ging zurück in die Küche, ließ aber die Tür offen. Sie begann den Tisch abzudecken, das Geschirr vom Abendessen in die Spülmaschine zu räumen. Kim zuliebe hatte sie aufwendig gekocht, obwohl sie selbst überhaupt keinen Hunger verspürt hatte, aber dann hatte auch Kim fast nichts angerührt, und nur Frederic hatte ein wenig gegessen. Im Grunde war fast alles übrig geblieben. Virginia seufzte leise. Kim war seit vier Tagen wieder bei ihrer Familie, aber es war schwierig, mit ihr ein Gespräch zu führen und sie zum Essen zu bewegen. Selbst an ihren Lieblingsgerichten pickte sie nur, legte dann stets die Gabel rasch zur Seite und sah ihre Mutter unglücklich an. »Ich kann nicht, Mum. Es tut mir leid. Es geht einfach nicht.«
F
Das allein zählte.
Im Haus herrschte völlige Stille. Kim war, wie auch an den anderen Abenden seit ihrer Rettung, früh ins Bett gegangen, hatte sich mit ihrem Bären im Arm tief in die Kissen gekuschelt, wie ein kleines Tier, das Schutz in seiner Höhle sucht. Ihre Mutter hatte sie zugedeckt und ihr eine Geschichte vorgelesen und sie dann gefragt, ob sie noch eine Weile bei ihr sitzen sollte, aber Kim hatte den Kopf geschüttelt. »Ich bin so müde, Mum. Ich will schlafen.«
A
Frederic war um Viertel vor acht aufgebrochen, um die zutiefst geschockte, in Verzweiflung erstarrte Grace Walker zum Bahnhof zu bringen. Sie wollte zu ihrem Bruder nach Kent reisen, um dort irgendwie die Tragödie zu überstehen, die so unversehens über sie hereingebrochen war. Ihre Welt war in sich zusammengestürzt, als am vergangenen Freitag Polizeibeamte in ihr Haus eingedrungen, das Unterste zuoberst gekehrt und Jacks Computer beschlagnahmt hatten. Als sie von den Verbrechen ihres Mannes und seinen jahrzehntelang vor ihr geheim gehaltenen sexuellen Vorlieben erfahren hatte, war sie innerhalb weniger Stunden zu einem gebrochenen Menschen geworden. Frederic, der sicher war, dass sie wirklich von allem nichts gewusst hatte, hatte ihr angeboten, weiterhin in Ferndale zu wohnen, aber erwartungsgemäß wollte Grace nur noch fort. Mit nicht mehr als zwei Koffern und einem Gitterkorb, in dem ihre Katze saß. Fort, irgendwohin, wo sie sich noch auf die Straße trauen und versuchen konnte, das Entsetzen zu überleben, in das ihr Mann sie gestürzt hatte.
V
Er war noch immer braungebrannt, die wenigen Tage, die er in Untersuchungshaft hatte verbringen müssen, hatten seinem gesunden Aussehen keinen Abbruch getan. Er trug einen Pullover, der ihm in gewohnter Weise an den Schultern zu eng war, und als Virginia genauer hinsah, erkannte sie, dass es sich um einen Pullover von Frederic handelte, der stets in Dunvegan im Schrank gelegen hatte. Nathan hatte sich, als sie dort gewesen waren, offensichtlich wieder einmal bedient.
Sie starrte ihn fassungslos an, unfähig, ein Wort herauszubringen, und schließlich war er es, der das Schweigen brach.
»Hallo, Virginia«, sagte er, »darf ich reinkommen?«
Sie fand endlich ihre Fassung wieder.
»Wo kommst du her? Warum bist du nicht mehr im Gefängnis?«
Er schien die Tatsache, dass sie mit ihm sprach, als Einverständnis zu werten, dass er die Küche betreten durfte, denn schon war er drin und schloss die Tür hinter sich. »Ich komme aus der Stadt. Und das GefängnisÉ Es besteht kein Verdacht mehr gegen mich.«
S
»Hast du Angst vor mir?«
»Frederic istÉ«
»Frederic ist eben weggefahren«, unterbrach Nathan, »oder glaubst du, ich wäre hier hereinspaziert, ohne sicherzugehen, dass du allein bist?«
»Er kommt jeden Moment zurück.«
Nathan lächelte erneut. Sein Lächeln war weder kalt noch böse, aber auch nicht warm oder herzlich. Es war ein vollkommen emotionsloses Lächeln. »Wovor hast du Angst? Ich habe diese Kinder weder vergewaltigt noch getötet. Ich habe Kim nicht entführt. Ich bin kein Verbrecher.«
»Ach, nein? Wie definierst du denn den Begriff Erpressung? Ist das etwa kein Verbrechen?«
Artikel vom 30.04.2007