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Er sagte sich, dass er nicht zu siegesgewiss sein sollte. Vielleicht waren es bloß Ratten, die hier unten herumhuschten, vielleicht hörte er nur ihre kleinen Krallen auf dem steinernen Boden.
Immer wieder blieb er stehen, hielt den Atem an, versuchte erneut, das Geräusch zu orten. Voller Angst, es könnte verstummen, ehe er seine Quelle gefunden hatte.
Doch es hielt an. Leise, kraftlos.
Er erreichte das Ende des Gangs. Rechts und links befanden sich zwei Räume. Die Türen waren längst aus den Scharnieren gebrochen und lagen auf dem Boden.

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ieder lauschte er. Das Geräusch kam aus dem Raum, der rechts von ihm lag. Er trat ein. Stella und er waren bei ihrem ersten Durchgang bereits dort gewesen. Ein Haufen zusammengebrochener und zu einem wirren Bretterhaufen gestapelter Holzregale hatte ihre Aufmerksamkeit erregt, sie hatten zwischen die Latten geleuchtet, nichts von Belang jedoch dahinter entdeckt. Jetzt aber glaubte er ganz sicher zu hören, dass das Kratzen genau von dort kam. Wieder näherte er sich den Regalen. Es waren so viele, und sie waren derart zerborsten und ineinander verkeilt, dass er ganz schwer nur etwas dahinter erspähen konnte. Er legte die Taschenlampe zur Seite, platzierte sie so, dass sich ihr Strahl auf die Bretter richtete, und begann, die Regale zur Seite zu räumen. Da er nicht wusste, was sich dahinter befand, musste er sehr vorsichtig zu Werke gehen. Er wollte nicht, dass der ganze Aufbau in sich zusammenfiel.
Er keuchte. Das Kratzen war verstummt.

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ann erklangen Schritte hinter ihm, der Strahl einer zweiten Taschenlampe fiel in den Kellerraum.
»Hier bist du«, sagte Stella. »Was machst du da?«
Da war ein Geräusch«, erklärte er, »hinter diesen Regalen. Hilf mir mal.«
Auch Stella legte ihre Lampe zur Seite. Es ging viel einfacher und schneller mit ihrer Hilfe. Sie konnte einzelne Bretter abstützen, während er andere vorsichtig darunter hervorzog. Der Stapel lichtete sich.
»Da steht irgendetwas«, sagte Stella.
Sie holte sich ihre Lampe, richtete den Strahl auf den Gegenstand, der sich unter den Regalen verborgen gehalten hatte. »Eine Kiste!«, rief sie überrascht.
Baker merkte, dass es in seinen Ohren zu summen begann. Das kratzende Geräusch. Eine Holzkiste unter einem Stapel zuammengefallener Regale. Sein Instinkt, der ihm geraten hatte, nicht aufzugeben.

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alt die Lampe«, sagte er. Mit einem raschen Blick vergewisserte er sich, dass ihm nichts auf den Kopf fallen konnte, dann kletterte er über die letzten herumliegenden Holzteile und beugte sich über die Kiste. Sie hatte kein Schloß. Aber der Deckel war schwer. Er brauchte seine ganze Kraft, ihn zu öffnen.
Kim Quentin lag auf einem Stapel Decken. Sie hatte die Beine angewinkelt, weil sie sie nicht ausstrecken konnte. Das Licht blendete sie, sie schloss sofort die Augen. Sie lebte.
Er hob den leichten, geschwächten Körper heraus. Er lag wie eine Feder in seinen Armen.
»Mein Gott«, hörte er Stella mit leiser Stimme murmeln, »wie gut, dass wirÉ« Sie sprach den Satz nicht zu Ende.
»Kim«, sagte Superintendent Baker und strich mit einer Hand behutsam über die feuchten, verklebten Haare des Kindes. »Kim, es wird alles gut.«
Kim schlug die Augen auf und sah ihn an. Ihr Blick war klar.
»Ich habe so furchtbaren Durst«, sagte sie.



Dienstag, 12. September1
Die Dunkelheit brach herein. Es war fast acht Uhr am Abend, und der Herbst näherte sich mit Riesenschritten. Wenn die Sonne unterging, wurde es sofort sehr kühl. In der Luft schwang ein würziger, etwas feuchter Geruch.
Virginia stand in der geöffneten Küchentür, atmete die Frische, die aus dem Park strömte. Über ihr bewegten sich leise die Äste der großen Bäume. Sie blickte nach oben, hätte so gern den Himmel im vergehenden Licht des Tages gesehen, aber das dichte Laub ließ es nicht zu. Verwundert fragte sie sich, weshalb sie das bisher nie bedauert hatte.
Sie fröstelte, ging zurück in die Küche, ließ aber die Tür offen. Sie begann den Tisch abzudecken, das Geschirr vom Abendessen in die Spülmaschine zu räumen. Kim zuliebe hatte sie aufwendig gekocht, obwohl sie selbst überhaupt keinen Hunger verspürt hatte, aber dann hatte auch Kim fast nichts angerührt, und nur Frederic hatte ein wenig gegessen. Im Grunde war fast alles übrig geblieben. Virginia seufzte leise. Kim war seit vier Tagen wieder bei ihrer Familie, aber es war schwierig, mit ihr ein Gespräch zu führen und sie zum Essen zu bewegen. Selbst an ihren Lieblingsgerichten pickte sie nur, legte dann stets die Gabel rasch zur Seite und sah ihre Mutter unglücklich an. »Ich kann nicht, Mum. Es tut mir leid. Es geht einfach nicht.«

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ür den morgigen Tag hatte Virginia einen Termin mit einem Psychotherapeuten vereinbart, der auf die Behandlung traumatisierter Kinder spezialisiert war. Es würde noch ein weiter Weg zu gehen sein, das wusste sie. Aber Kim lebte und war wieder bei ihnen.
Das allein zählte.
Im Haus herrschte völlige Stille. Kim war, wie auch an den anderen Abenden seit ihrer Rettung, früh ins Bett gegangen, hatte sich mit ihrem Bären im Arm tief in die Kissen gekuschelt, wie ein kleines Tier, das Schutz in seiner Höhle sucht. Ihre Mutter hatte sie zugedeckt und ihr eine Geschichte vorgelesen und sie dann gefragt, ob sie noch eine Weile bei ihr sitzen sollte, aber Kim hatte den Kopf geschüttelt. »Ich bin so müde, Mum. Ich will schlafen.«

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ls Virginia zehn Minuten später nach ihr gesehen hatte, waren ihre Augen bereits geschlossen, und sie atmete tief und gleichmäßig.
Frederic war um Viertel vor acht aufgebrochen, um die zutiefst geschockte, in Verzweiflung erstarrte Grace Walker zum Bahnhof zu bringen. Sie wollte zu ihrem Bruder nach Kent reisen, um dort irgendwie die Tragödie zu überstehen, die so unversehens über sie hereingebrochen war. Ihre Welt war in sich zusammengestürzt, als am vergangenen Freitag Polizeibeamte in ihr Haus eingedrungen, das Unterste zuoberst gekehrt und Jacks Computer beschlagnahmt hatten. Als sie von den Verbrechen ihres Mannes und seinen jahrzehntelang vor ihr geheim gehaltenen sexuellen Vorlieben erfahren hatte, war sie innerhalb weniger Stunden zu einem gebrochenen Menschen geworden. Frederic, der sicher war, dass sie wirklich von allem nichts gewusst hatte, hatte ihr angeboten, weiterhin in Ferndale zu wohnen, aber erwartungsgemäß wollte Grace nur noch fort. Mit nicht mehr als zwei Koffern und einem Gitterkorb, in dem ihre Katze saß. Fort, irgendwohin, wo sie sich noch auf die Straße trauen und versuchen konnte, das Entsetzen zu überleben, in das ihr Mann sie gestürzt hatte.

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irginia räumte die Teller zusammen, kratzte die Essensreste in den Mülleimer und schrak zusammen, als sie plötzlich hinter sich ein Geräusch vernahm. Sie fuhr herum und sah Nathan Moor, der in der Tür stand.
Er war noch immer braungebrannt, die wenigen Tage, die er in Untersuchungshaft hatte verbringen müssen, hatten seinem gesunden Aussehen keinen Abbruch getan. Er trug einen Pullover, der ihm in gewohnter Weise an den Schultern zu eng war, und als Virginia genauer hinsah, erkannte sie, dass es sich um einen Pullover von Frederic handelte, der stets in Dunvegan im Schrank gelegen hatte. Nathan hatte sich, als sie dort gewesen waren, offensichtlich wieder einmal bedient.
Sie starrte ihn fassungslos an, unfähig, ein Wort herauszubringen, und schließlich war er es, der das Schweigen brach.
»Hallo, Virginia«, sagte er, »darf ich reinkommen?«
Sie fand endlich ihre Fassung wieder.
»Wo kommst du her? Warum bist du nicht mehr im Gefängnis?«
Er schien die Tatsache, dass sie mit ihm sprach, als Einverständnis zu werten, dass er die Küche betreten durfte, denn schon war er drin und schloss die Tür hinter sich. »Ich komme aus der Stadt. Und das GefängnisÉ Es besteht kein Verdacht mehr gegen mich.«

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ie war zurückgezuckt, als er die Tür schloss. Am liebsten hätte sie gesagt, er solle sie sofort wieder öffnen, aber sie mochte ihm nicht zeigen, wie nervös sie war. Er schien es dennoch zu spüren, denn er lächelte.
»Hast du Angst vor mir?«
»Frederic istÉ«
»Frederic ist eben weggefahren«, unterbrach Nathan, »oder glaubst du, ich wäre hier hereinspaziert, ohne sicherzugehen, dass du allein bist?«
»Er kommt jeden Moment zurück.«
Nathan lächelte erneut. Sein Lächeln war weder kalt noch böse, aber auch nicht warm oder herzlich. Es war ein vollkommen emotionsloses Lächeln. »Wovor hast du Angst? Ich habe diese Kinder weder vergewaltigt noch getötet. Ich habe Kim nicht entführt. Ich bin kein Verbrecher.«
»Ach, nein? Wie definierst du denn den Begriff Erpressung? Ist das etwa kein Verbrechen?«
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 30.04.2007