28.04.2007 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 


An der Wand klebte ein Poster, das einen erwachsenen Mann im Geschlechtsakt mit einem höchstens zehn Jahre alten Mädchen zeigte. Die Augen des Mädchens waren weit aufgerissen und voller Entsetzen.
»Nach all meinen Jahren bei der Polizei«, sagte Stella, die gleich hinter Baker stand, »kann ich so etwas nicht sehen, ohne das Gefühl zu haben, schreien zu müssen.«
»Da bist du nicht allein«, erwiderte Baker und wandte sich ab. »Dreckskerl«, sagte er inbrünstig, »dieses Zeug hat er daheim nicht aufzubewahren gewagt.«
»Glaubst du, seine Frau hat wirklich keine Ahnung?«, fragte Stella.
»Zumindest will sie ganz sicher keine Ahnung haben«, meinte Baker. Dann wandte er sich an die anwesenden Beamten. »Weitersuchen! Er war hier. Das bedeutet, mit der Preisgabe dieses Geländes hat er uns nicht belogen. Kim könnte wirklich hier irgendwo sein.«
Anderthalb Stunden später waren alle ratlos und erschöpft.
»Nach menschlichem Ermessen«, sagte einer der Beamten, »gibt es hier jetzt keinen Winkel mehr, in dem wir nicht waren. Nirgends eine Spur von dem Kind.«

»Er hat uns eine Geschichte aufgetischt«, sagte Stella, »wahrscheinlich ist er mit Kim hier gewesen. Aber dannÉ ich meine, die anderen Kinder wurden auch ganz woandersÉ«

B
aker strich sich über das Gesicht. Seine Augen brannten vor Anstrengung. »Das hieße, Kim ist tot? Die Leichen der anderen Kinder tauchten alle in der Nähe von KingÕs Lynn auf, alle an Stellen, an denen über kurz oder lang jemand vorbeikommen musste. Warum haben wir dann Kim nicht gefunden?
Obwohl Hundertschaften der Polizei seit zwei Tagen jeden Grashalm nach ihr umdrehen!«
»Weil er sie vielleicht ganz woanders abgelegt hat«, sagte Stella, »eben gerade deshalb, weil es um die Stadt herum von Polizei wimmelt. Da hebt man nicht einfach so ein totes Kind aus dem Auto und legt es an den Straßenrand. Vielleicht ist er Richtung Cromer gefahren. Oder nach Süden, in die Gegend um Cambridge. Im Grunde kommt jeder Ort in Frage.«
Baker schwieg. Er hätte nicht zu begründen gewusst, weshalb er dieses einsame, trostlose Gelände noch nicht verlassen wollte. Sie hatten alles abgesucht. Sie hatten nicht die geringste Spur von Kim gefunden. Stella hatte wahrscheinlich Recht. Walker mochte mit Kim hier gewesen sein, später hatte er sie jedoch anderswo hingebracht. Was den Schluss, dass sie nicht mehr am Leben war, mehr als wahrscheinlich machte.
Und dennoch war da eine Stimme. Sie hatte etwas mit dem Instinkt zu tun, den Baker im Laufe jahrelanger Ermittlungsarbeit entwickelt hatte. Diese Stimme mochte ihn nicht fortgehen lassen. Die Stimme warnte ihn, jetzt schon aufzugeben.
»Noch einmal«, sagte er, »wir durchsuchen hier noch einmal jeden Winkel.«
Alle starrten ihn an.
»SirÉ«, begann einer der Beamten, doch Baker brachte ihn mit einem einzigen Blick zum Schweigen.

S
tella war nicht so leicht einzuschüchtern. »Jeffrey, das bringt doch nichts! Es gibt hier einfach keine Stelle mehr, an der wir noch nicht nachgesehen hätten. Wir sind alle völlig erschöpft. Und wir verschwenden Zeit. Zeit, die wir dringend brauchen, um Kim an einem anderen Ort zu suchen.«
»Wenn Kim nicht hier ist, dann ist sie tot«, sagte Baker. »Wenn er sie am Leben gelassen und irgendwo versteckt hat, dann hier. Auf diesem Gelände. Einen anderen Ort wird er nicht kennen und zur Verfügung haben.«
»Okay«, sagte Stella ohne jede Überzeugung, »okay. Also los, von vorn!«
Der Trupp schwärmte erneut aus, und obwohl die Beamten inzwischen überzeugt waren, nichts zu finden, suchten sie dennoch mit ebenso großer Sorgfalt und Genauigkeit wie zuvor. Stella blieb in Bakers Nähe.
»Die Kellerräume«, sagte Baker, »sie stellen meiner Ansicht nach die einzige Chance dar, doch noch etwas zu finden. Einen Hohlraum, eine Kammer, irgendetwas, das wir übersehen haben. Sie sind dunkel und verwinkelt. Ich glaube nicht, dass uns oben etwas entgangen ist.«
»Gut«, meinte Stella ergeben, »dann gehen wir noch einmal hinunter.«
Sie durchsuchten das Kellergewölbe des vordersten Bürogebäudes. Feuchtigkeit war hier im Lauf der Jahre eingedrungen und hatte die gemauerten Gänge und Räume in nasse, kalte Verliese verwandelt.

E
in paar halb verfaulte Holzregale standen noch entlang den Wänden. Schwer vorstellbar, dass darin Akten gestanden und Papierstapel gelegen hatten. So schwer vorstellbar wie die Tatsache, dass täglich viele Menschen hierher zur Arbeit gekommen waren. Dass alles in einem sauberen, ordentlichen Zustand gewesen war und eine große Firma von hier aus ihre Transporte in alle Richtungen Europas organisiert und gestartet hatte.
Als sie mit dem ersten Gebäude fertig waren und wieder nach oben kamen, seufzte Stella tief, rutschte langsam an der Außenmauer des Hauses herab und blieb erschöpft zwischen Disteln und Löwenzahn sitzen.
»Nur fünf Minuten«, bat sie und strich sich mit der Hand über das Gesicht, »gib mir fünf Minuten, Jeffrey. Ich brauche einfach eine Zigarette.«

E
r grinste. Stellas hoffnungslose Nikotinsucht war oft Gegenstand zahlreicher Hänseleien unter den Kollegen.
»Versau du dir deine Lungen«, sagte er, »ich gehe inzwischen ein Haus weiter in den Keller.«
»Bin gleich bei dir«, versprach Stella, zündete eine Zigarette an und nahm einen tiefen, genießerischen Zug.
Baker machte sich allein auf den Weg in den nächsten Keller. Er sah genauso aus wie der erste, war nur noch größer und weitläufiger. Strom gab es hier draußen keinen mehr, aber Baker hatte eine starke Taschenlampe, mit deren Hilfe er sich seinen Weg suchte.
Der Keller war sehr verwinkelt. Immer wieder ging es ein paar Treppenstufen hinauf oder hinab. Man musste sich konzentrieren, um wegen der Feuchtigkeit nicht auszurutschen. Baker ging in jeden Raum hinein, leuchtete Millimeter um Millimeter die Wände ab. Er hoffte auf eine Tür oder auf Steine zu stoßen, die locker aufeinander lagen und vielleicht den Weg zu einem verborgenen Hohlraum freigeben würden. Etwas, das er bei seinem ersten Durchgang möglicherweise übersehen hatte. Aber da war nichts. Festgefügte Mauern. Kein Durchgang, keine getarnte Tür. Nichts.

I
ch habe mich geirrt, dachte er. Müde stolperte er die nächste Treppe hinunter. Erschöpfung und Resignation breiteten sich auf einmal wie ein schnell wirkendes Gift in ihm aus. Kim Quentin war nicht zu retten. Wieder würde er mit leeren Händen vor ihren Eltern stehen. Vielleicht hatte Stella Recht, und er vertat gerade kostbare Zeit. Vielleicht hätte er fortfahren müssen, Jack Walker, dessen Redefluss kaum zu bremsen gewesen war, zu verhören. Walker hätte ihm alles über Sarah und Rachel erzählt, und vielleicht wäre er dann zwangsläufig bei Kim gelandet und hätte anstelle von wirren Andeutungen klipp und klar gesagt, was er mit ihr getan hatte. Und wo sie zu finden war.
Womöglich hatte er einen großen Fehler gemacht. Seine Entscheidung hatte sich auf das Gefühl gegründet, dass die Zeit drängte. Dass Kim noch lebte, aber dass sie schnell gefunden werden musste. Dass keine Zeit blieb, Walkers endlosen, ausschweifenden Schilderungen zu lauschen. In der Hoffnung, dass er irgendwann das sagte, worauf alle brennend warteten.
Gefühl. Instinkt. Er hatte sich oft davon leiten lassen. Und oft gewonnen. Einige Male jedoch auch verloren.
Gott, wenn es diesmal schiefgegangen ist! Und wenn sich herausstellt, dass ein kleines Mädchen am Ende für meinen Irrtum bezahlen muss.
Schwer atmend blieb er stehen. Am liebsten wäre er auf dem Absatz umgekehrt, hätte sich ins Auto gesetzt, wäre zurück nach KingÕs Lynn gerast, hätte sich Jack Walker vorgenommen und die Informationen über Kim Quentin aus ihm herausgeprügelt. Aber das wäre eine Panikreaktion gewesen. Und von Panik, das war nun wirklich klar, durfte man sich gerade in seinem Beruf keinesfalls leiten lassen.
Ganz ruhig, mahnte er sich, du führst zu Ende, was du begonnen hast. Du durchsuchst diesen Keller und dann den nächsten. Dann erst brichst du die Aktion hier draußen ab.
Und genau in diesem Moment hörte er es.
Das Geräusch war so schwach, dass er es mit seinen eigenen Schritten übertönt hätte, wäre er nicht gerade still gestanden. Vermutlich hätten schon die Anwesenheit Stellas und ihr Atmen gereicht, das Geräusch unhörbar zu machen. Nur weil er allein war, nur weil er gerade innehielt, nur weil für ein paar Momente vollkommene Stille um ihn herrschte, konnte er es wahrnehmen.

E
s klang wie ein ganz feines Kratzen. Wie das Echo eines Kratzens. So zart, dass er einen Augenblick später schon wieder meinte, sich getäuscht zu haben. Doch dann hörte er es erneut. Es kam aus der Richtung, in der sich der Gang vor ihm in der Dunkelheit verlor.
Mit raschen Schritten, befreit plötzlich von aller Müdigkeit, ging er weiter. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 28.04.2007