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Ja.«
»Und in Ihrem Auto mitgenommen.«
»Ja.«
»Und wohin sind Sie mit ihr gefahren? Walker? Wohin?«
»Ich habe ihr nichts getan!«
»Wo ist sie?«
»Sie ist mein Püppchen. Meine Prinzessin. Ich könnte ihr niemals wehtun!«
»Wo ist sie, Walker, verdammt?«
»Ich kann nichts dafür. Es überkommt mich. Ich will es nicht. Bitte, glauben Sie mir. Ich will den Kindern nichts antun. Ich wünschteÉ Ich wünschteÉ«
»Was?«
»Ich wünschte, ich wäre nie geboren worden«, hatte Jack Walker hervorgestoßen und wieder so heftig zu weinen begonnen, dass minutenlang überhaupt nicht mit ihm zu reden gewesen war.

E
s schien für Jack Walker eine ungeheure Erleichterung zu bedeuten, sich endlich einem anderen Menschen öffnen zu dürfen, sowohl was seine Veranlagung anging als auch die Ermordung der beiden Mädchen. Bis in die letzten Details hinein wollte er sich von der Last seiner Schuld wenigstens so weit befreien, dass er sie nicht mehr allein herumtrug. Baker hätte traumhafte Geständnisse haben können, die Antwort gaben auf alles, was er wissen wollte. Jack Walker hätte Stunde um Stunde geredet, von seiner Kindheit und Jugend in einer spießigen, nach außen hin intakten, aber im Innersten dysfunktionalen Familie angefangen, über das Erwachen seiner schrecklichen sexuellen Neigungen und seinen Bemühungen, diese zu bekämpfen, bis hin zu den Verbrechen, die er dann begangen hatte, als es ihm schließlich nicht mehr gelang, seine Triebhaftigkeit zu unterdrücken.
»Ich wollte die Mädchen nicht umbringen! Das müssen Sie mir glauben! Ich wollte es nicht, ich wollte es nicht! Aber ich hatteÉ es mit ihnen getan, und ich hatte AngstÉ Mein Gott, sie hätten mich doch angezeigt, ich wäre ins Gefängnis gekommenÉ Ich hatte solche AngstÉ«
Er war wie eine weit geöffnete Schleuse gewesen, die Baker nur noch hätte strömen lassen müssen.
Aber solange noch die geringste Chance bestand, dass Kim Quentin am Leben war, durfte er sich damit nicht aufhalten. Er musste herausfinden, wohin Walker sie gebracht hatte. Er musste es wissen, bevor er sich Walkers Lebenslauf und die Beschreibungen seiner grauenhaften Taten anhörte, über seine gestammelten Rechtfertigungen und sein Mitleid heischendes Gewinsel kotzte und doch widerwillig die Qual und das Ausgeliefertsein dieses Mannes verstand. Vorher musste er versuchen, das Leben Kim Quentins zu retten - wenn es noch zu retten war.
Er hatte Walker immer wieder mit scharfer Stimme unterbrochen.

»Das interessiert mich jetzt nicht, Walker. Erleichtern Sie Ihr Gewissen später. Jetzt will ich nur wissen, wohin Sie Kim Quentin gebracht haben. Wohin, verdammt?«
Er hatte ihn angebrüllt, und Jack Walker hatte zu zittern begonnen. »Ich habe sieÉ Ich habe angehalten. Ich habe sie angefasst. Sie ist so süß. So zartÉ«

B
aker war ein abgebrühter Polizeibeamter, aber derartige Reden konnte er sich kaum anhören, ohne dass ihm schlecht wurde. Er musste sich sehr bemühen, Walker nicht dadurch zum Schweigen zu bringen, dass er ihn seinen Ekel zu sehr spüren ließ.
»Ich verstehe, Walker. Und dann bekamen Sie Angst? Angst, dass Kim ihren Eltern erzählen würde, dass sie von Ihnen angefasst wurde?«
Walker hatte wieder zu weinen begonnen. »Das alteÉ GeländeÉ diese Firma, Trickle & Son, für die ich ab und zu noch arbeiteÉ«
»Ja? Es gibt da ein altes Gelände? Sie meinen, ein verlassenes Gelände?«
»Ja. Richtung Sandringham. Vor zehn Jahren ist Trickle von dort weggegangen. War ja mal eine riesige Spedition. Ich war da fest angestellt. Früher. Jetzt ist da niemand mehrÉ«
Baker hatte sich vorgeneigt, gespannt wie eine Feder. »Dorthin sind Sie mit Kim gefahren?«
»JaÉ«
»Und dort ist sie noch?«
Walker hatte mit den Schultern gezuckt und erneut hemmungslos zu weinen begonnen.
Baker war aufgesprungen. »Okay. Das ehemalige Firmengelände der Spedition Trickle & Son.«

U
nd so jagten sie nun Richtung Sandringham hinaus, nachdem sich ein Beamter informiert hatte, wo genau sich die seit langem leer stehenden Firmengebäude befanden. Eine gottverlassene Gegend, wie Baker wusste. Ein perfekter Ort für jemanden wie Walker. Ein idealer Ort, sich vor dem Rest der Welt zu verstecken. Dorthin hatte er Kim gebracht. Aber was dann? Er hatte zunächst beteuert, sie nicht angerührt zu haben, und später eingeräumt, dass er an ihr »herumgespielt« hatte. Wie weit er tatsächlich gegangen war, mochte ihm möglicherweise selbst nicht ganz klar sein. Baker wusste, dass Täter vom Typ Jack Walkers ihre Verbrechen tatsächlich bereuten und häufig mit ihrer Schuld nur zurechtkamen, indem sie sie verdrängten. Kim Quentin hatte, anders als die beiden anderen Opfer, eine besondere Rolle in Jack Walkers Leben gespielt. Wenn er ihr etwas angetan hatte, vermochte er sich mit diesem Umstand möglicherweise selbst nicht mehr zu konfrontieren. Und so blieb die bange Frage: Wenn sie Kim überhaupt vorfanden, würde sie tot oder lebendig sein?
»Ich finde nicht, dass er gut aussieht«, sagte Stella.

B
aker, aus seinen Gedanken aufgeschreckt, sah sie überrascht an. »Wer? Wen meinst du?«
»Walker. Jack Walker. Ein langweiliger Opa-Typ, so würde ich ihn beschreiben. Weil doch Rachel Cunningham bei ihrer Freundin behauptet hatte, er sähe aus wie ein Filmstar.«
Baker seufzte. »Sie wollte wahrscheinlich ein bisschen angeben. Aber mit den Personenbeschreibungen ist das immer so eine Sache, nicht wahr? Kaum jemandem gelingt es, wirklich objektiv zu sein.«
Rachel Cunningham. Er musste daran denken, was Walker während seines Geständnisses über sie gesagt hatte. Rachel Cunningham hätte davonkommen können. Als er sie angesprochen hatte, hatte er sich für den darauffolgenden Sonntag mit ihr verabreden wollen, aber Rachel hatte ihn wegen der geplanten Ferienreise ihrer Familie um drei Wochen vertrösten müssen. Walker, durchaus stets im Kampf mit seiner schrecklichen Veranlagung, war darauf eingegangen, hoffend, er werde während dieser Zeitspanne das Interesse an dem Mädchen verlieren. Als der betreffende Sonntag gekommen war, hatte ihn jedoch seine sexuelle Unrast schon in der Nacht nicht mehr schlafen lassen. Wie willenlos, so seine Aussage, war er schließlich zum ChapmanÕs Close gefahren, in irgendeinem Winkel seiner Seele hoffend, das Mädchen selbst sei inzwischen der Angelegenheit überdrüssig geworden. Aber Rachel habe bereits gewartet, aufgeregt und erwartungsvoll.

D
as ehemalige Gelände der Firma Trickle war seit Jahren dem Verfall preisgegeben und bot trotz des sonnigen Wetters einen trostlosen Anblick. Baker war längere Zeit zuvor einmal dort gewesen, hatte aber nicht mehr in Erinnerung gehabt, wie weitläufig sich Garagen, Lagerhallen und einstige Bürogebäude erstreckten. Der Hof war völlig mit Unkraut überwuchert. Aus allen Fenstern waren längst die Glasscheiben herausgebrochen, und tote, dunkle Höhlen starrten aus dem schmutzigen Mauerwerk. Die Dächer waren halb abgedeckt, Stahltüren standen offen und hingen schief in ihren Angeln. Vor einer der lang gestreckten Lagerhallen stand ein gänzlich verrosteter Lieferwagen ohne Räder. Aus seiner zersplitterten Windschutzscheibe wuchs Löwenzahn.
Stella öffnete die Autotür. »Das wird dauern«, sagte sie, »wenn das hier alles auch noch unterkellert istÉ«
»Wir haben keine Minute Zeit zu verlieren«, drängte Baker und stieg aus.
Die Beamten verteilten sich sofort über das ganze Gelände. Wie mit bloßem Auge zu erkennen war, waren etliche der Gebäude einsturzgefährdet, und man musste sich in ihrem Inneren mit äußerster Vorsicht bewegen. Zudem stellte sich heraus, dass sämtliche Bürogebäude tatsächlich unterkellert waren.
»Wenn sie noch lebt«, sagte Stella, »wird sie sich irgendwann bemerkbar machen.«
»Es sei denn, sie ist vor Angst wie erstarrt«, meinte Baker, »sie kann auch völlig entkräftet sein. Wir dürfen keinen Winkel auslassen.«
Während der ersten Dreiviertelstunde fanden sie überhaupt nichts. Nicht den kleinsten Hinweis darauf, dass überhaupt je ein Kind hier gewesen war. In einem Speicher stießen sie schließlich auf eine Menge leerer Bierflaschen und auf Kerzenstummel, die auf dem hölzernen Fußboden klebten.
Baker schüttelte den Kopf. »Hat vermutlich nichts mit Walker zu tun. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er sich hierhersetzt, Kerzen anzündet und Bier trinkt. Wahrscheinlich haben Jugendliche eine Party gefeiert.«
»Aber hier«, erklang die Stimme eines Beamten, der soeben den Nebenraum durchsuchte, »hier ist etwas, das könnte mit Walker zu tun haben!«

B
ei dem Nebenraum handelte es sich eher um eine Art begehbaren Wandschrank, mit einer Tapetentür fast bis zur Unkenntlichkeit getarnt. Baker spähte hinein. Auf dem Fußboden stapelten sich Fotos, die kleine Kinder in eindeutig pornografischen Posen zeigten.
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 27.04.2007