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Dann müssten Sie auch am siebenundzwanzigsten August dort gewesen sein.«
»Wahrscheinlich. Ich weiß es nicht genau. Ich gehe nicht jeden Sonntag dorthin.«
»Nein? Eben sagten Sie noch, Sie tun es jeden Sonntag!«
»Sie sagten das.«
»Sie bestätigten es.«
»Ich weiß nicht, worauf Sie hinauswollen«, sagte Walker. Er hatte ein paar Schweißtropfen auf der Stirn. Um die Quentins am Friedhof abzuholen, hatte er sich sehr korrekt gekleidet, trug einen Anzug und eine Krawatte. Für einen Spätsommertag war er viel zu warm angezogen. Baker nahm an, dass er gern seine Krawatte gelockert hätte, sich aber nicht traute, und es fiel ihm nicht im Traum ein, ihn dazu aufzufordern.
»Worauf ich hinauswill, Mr. Walker? Ich will darauf hinaus, dass Sie zugeben, am Vormittag des siebenundzwanzigsten August die kleine Rachel Cunningham in das abgelegene Gebiet am ChapmanÕs Close gelockt zu haben, wo sie dann in Ihr Auto stieg, von Ihnen irgendwohin verschleppt, dort missbraucht und anschließend getötet wurde. In Sandringham haben Sie die Leiche später abgelegt.«
Baker hatte deutlich gesehen, dass Walker bei der Erwähnung des ChapmanÕs Close zusammengezuckt war. Er hatte offenbar nicht damit gerechnet, dass die Polizei diesen Treffpunkt kannte.
»Sie haben Rachel Cunningham am Sonntag, den sechsten August, zum ersten Mal angesprochen. Vor der Kirche in Gaywood. Ich bin überzeugt, dass sich, wenn wir mit Ihrem Bild an die Öffentlichkeit gehen, Menschen finden werden, die sich erinnern, Sie dort herumlungern gesehen zu haben.«

W
alker schwieg. Er schwitzte jetzt heftiger.
Baker, der bis dahin gestanden hatte, zog einen Stuhl heran und setzte sich Jack Walker gegenüber an den Tisch. Er neigte sich vor, sah dem älteren Mann in die Augen. Seine zuvor schneidende Stimme nahm einen weicheren Klang an.
»Mr. Walker, wir vermissen ein Kind. Ein siebenjähriges Mädchen. Kim Quentin. Wir haben bislang keine Leiche gefunden, obwohl Polizeitrupps und Spürhunde praktisch ohne Unterbrechung die ganze Gegend um KingÕs Lynn herum absuchen. Vielleicht bedeutet das, dass Kim Quentin noch am Leben ist. Und vielleicht wissen Sie, wo sie sich aufhält. Wenn Sie darüber schweigen, wird sie sterben. Verhungern. Verdursten. Wissen Sie, Walker«, er sprach jetzt sehr leise, »wir kriegen Sie. Sie stehen schon jetzt mit beiden Füßen im Knast, und Sie wissen das auch. Sie mögen denken, dass es in Ihrer Lage egal ist, ob noch ein Kind draufgeht oder nicht. Aber da täuschen Sie sich. Wenn sich herausstellt, dass Kim Quentin zu retten gewesen wäre und dass sie qualvoll sterben musste, weil Sie das Maul nicht aufgemacht haben, dann hat das nicht nur Konsequenzen für das Strafmaß, das Ihnen zugedacht wird. Es wird sich auch auf die Behandlung auswirken, die Sie später im Gefängnis zu erwarten haben. Ich spreche nicht vom dortigen Personal. Ich spreche von Ihren Mitinsassen.« Er machte eine Pause. Walker drehte an seiner Krawatte. Sein Gesicht glänzte.

E
s gibt Hierarchien im Knast«, fuhr Baker fort, »und die werden peinlich genau eingehalten. Verbrechen an Kindern rangieren ganz unten. Typen, die sich an Kindern vergehen, sind so verhasst, wie Sie sich das wahrscheinlich kaum vorstellen können. Man wird Sie diesen Hass spüren lassen, Walker. Und ich versichere Ihnen, es wird eine Rolle spielen, ob Sie im letzten Moment noch das Leben eines Kindes gerettet haben. Ich kann Ihnen schwören, dass Sie es Tag und Nacht bereuen werden, wenn Sie es nicht tun. Tag und Nacht. Jahr um Jahr. Was Sie erwartet, Walker, ist die Hölle. So oder so. Aber auch die Hölle hat ihre verschiedenen Etagen. Ich an Ihrer Stelle würde versuchen, mich so weit oben wie möglich anzusiedeln.« Er lehnte sich wieder zurück. »Nur ein guter Rat von mir, Walker.«
Walker sprach mit stockender Stimme. »IchÉ habe nichts getan.«
»Wo ist Kim Quentin?«, fragte Stella.
»Das weiß ich nicht.«
»Am Mittwoch, den sechsten September«, sagte Baker, »vorgestern also, befanden Sie sich auf der Rückfahrt von Plymouth. Sie hatten eine Lieferfahrt dorthin gemacht.«
»Es gibt jede Menge Menschen, die das bezeugen können«, sagte Walker erregt. »Ich kann Ihnen allein in Plymouth mehrere Personen nennenÉ«

B
aker hob die Hand. »Sparen Sie sich das. Ihren Trip nach Plymouth haben die Kollegen bereits überprüft. Kein Zweifel, Sie waren dort. Wir wissen aber auch, wann Sie am Mittwoch früh aufbrachen. Sie sind seltsam spät daheim angekommen.«
»Hätte ich rasen sollen wie ein Verrückter? Ich geriet in einige Staus undÉ«
»Einen wirklich dramatischen Stau gab es am Mittwoch auf der Strecke nicht. Kein Unfall, nichts. Sie aber waren eine halbe Ewigkeit unterwegs.«
»Ich geriet in den Berufsverkehr. Liebe Güte, Sie müssen doch wissen, wie das ist! Man zockelt in einer endlosen Schlange von Autos dahinÉ« Walker hob hilflos die Arme. »Wird es mir nun zum Verhängnis, dass ich zu lange für den Weg von Plymouth nach KingÕs Lynn gebraucht habe? Dass ich zwischendurch auf einen Parkplatz fuhr und eine oder auch zwei Stunden schlief? Ich war todmüde. Ich versuchte, mich verantwortungsvoll zu verhalten. Ich wollte nicht am Steuer einnicken. Aber offenbar war das ein Fehler. Ich wollte alles richtig machen und habe mich damit ins Verhängnis manövriert.« Seine Stimme hatte einen wehleidigen Klang angenommen.
»Ich sage Ihnen, was ich vermute«, entgegnete Baker, ohne sich die Mühe zu machen, seine Verachtung für das Selbstmitleid seines Gegenübers zu verbergen. »Ich vermute, dass Sie, als Ihre Frau Sie anrief und fragte, ob Sie Kim Quentin von der Schule abholen könnten, schon viel näher an KingÕs Lynn waren, als Sie zugaben. Sie müssten bereits den Stadtrand erreicht gehabt haben. Sie behaupteten jedoch, es auf keinen Fall zur rechten Zeit schaffen zu können. Doch dann überlegten Sie es sich anders. Möglicherweise war es Ihnen sogar schon klar, als Sie Ihre Frau anschwindelten. Sie fuhren geradewegs zu Kims Schule.«
»Nein«, sagte Walker. Er zupfte erneut an seiner Krawatte.
»Sie waren viel eher dort, als das Ihrer Frau von Ferndale aus, noch dazu in ihrem kranken und fiebrigen Zustand, gelingen konnte. Kim stand vor dem Schultor und wartete. Es gibt mehrere Zeugen, die das bestätigen können. Sie hatten leichtes Spiel. Kim kennt Sie und vertraut Ihnen. Sie wunderte sich kein bisschen, dass Sie kamen, um sie abzuholen. Ohne zu zögern, stieg sie in Ihr Auto.«
»Das ist doch absurd«, knurrte Walker. Sein Gesicht war nun stark gerötet. Er lockerte endlich seine Krawatte.

B
akers Stimme wurde sehr leise. Aus den Augenwinkeln konnte er erkennen, dass sich auch Stella anstrengen musste, ihn zu verstehen. »Und was geschah dann, Mr. Walker? Sie saßen in Ihrem Auto. Neben Ihnen dieses kleine Mädchen. Sie fuhren einen Lastwagen. Der hat keinen Rücksitz. Sie konnten Kim nicht nach hinten setzen. Hätte Ihnen die Distanz geholfen? So saß sie gleich neben Ihnen. Sie war nass vom Regen. Verstärkte dies den Geruch ihrer Haut? Ihrer Haare? Sie plapperte. Sie lachte. Was geschah da mit Ihnen, Jack? Sie haben diese Sehnsucht in sich, nicht wahr? Diese Sehnsucht nach kleinen Mädchen. Nach diesen zarten Körpern, den weichen Haaren. Nach dieser Unschuld, die doch schon unverkennbar weiblich ist. Sie saßen da in Ihrem Lastwagen, und auf einmalÉ«
»Nein!«, sagte Jack scharf. Mit einem plötzlichen, heftigen Ruck zerrte er sich die Krawatte vom Hals.
»Nein!«, schrie er. »Nein! Nicht Kim! Ich habe Kim nicht angerührt! Ich schwöre es bei Gott! Ich habe Kim nicht angerührt! Nein!«
Und dann warf er sich nach vorn über den Tisch, barg das Gesicht in den Händen. Seine breiten Schultern bebten.
Jack Walker weinte wie ein kleines Kind.


3
Sie rasten die sonnige Landstraße entlang. Mehrere Polizeiwagen. Im vordersten saßen Superintendent Baker und Stella. Stella lenkte.
»Ich bin schneller«, hatte sie zu Baker gesagt und ihm den Autoschlüssel aus der Hand genommen, »ich habe weniger Skrupel.«
Tatsächlich fuhr sie so, dass die anderen Mühe hatten, mitzuhalten. Sie trug eine dunkle Sonnenbrille. Selbst im Profil verrieten ihre fest aufeinander gepressten Lippen eiserne Entschlossenheit.
Nachdem Jack Walker zusammengebrochen war, hatten sie zwar keine Mühe mehr gehabt, ihn zum Geständnis der Morde an Sarah Alby und Rachel Cunningham zu bewegen. Auch gab er ohne Umschweife zu, Janie Brown in jenem Schreibwarenladen angesprochen zu haben - in der Absicht, sie ebenfalls in sein Auto und damit in seine Gewalt zu locken. Aber er blieb wirr, was Kim anging. Er konnte nicht über sie sprechen, ohne dass es ihn schüttelte vor Schluchzen, und teilweise waren seine Ausführungen kaum verständlich.
»Ich habe sie geliebt! Ich habe sie doch geliebt! Nie würde ich ihr ein Haar krümmen! Niemals! Niemals!«
»Sie haben sie vorgestern an der Schule abgefangen?«
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 26.04.2007