25.04.2007 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 


Auf Wiedersehen«, sagte Doris mit jenem nervösen Klang in der Stimme, der Janie stets verriet, dass ihre Mutter dringend eine Zigarette brauchte. Sie würde eine aus ihrer Tasche kramen, kaum dass sie zehn Schritte vom Friedhofstor entfernt wären.
Jetzt lass uns gehen, bettelte sie stumm und wich hastig dem todtraurigen Blick Mrs. Quentins aus.
Und da sah sie ihn.
Sie hatte überhaupt nicht mehr damit gerechnet und war so fassungslos, dass sie zunächst nicht fähig war, irgendetwas zu sagen oder zu tun. Sie starrte nur und starrte und hatte dabei den Eindruck, dass ihr Gehirn nicht verarbeiten wollte, was ihre Augen erblickten.
Es war eine Täuschung. Es konnte nur eine Täuschung sein.
»Auf Wiedersehen, Janie«, sagte Baker.
Sie erwiderte nichts.
»Nun gib dem Superintendent schon die Hand«, mahnte Doris ungeduldig. Dann schien ihr etwas aufzufallen, denn sie fragte: »Was ist denn los? Kannst du nicht mehr reden und dich bewegen?«
»Da ist er«, flüsterte Janie. Sie hatte einen großen Ballen Watte im Mund, und ihr Hals war völlig ausgetrocknet. Es gelang ihr einfach nicht, lauter zu sprechen.
Außer ihrer Mutter hatte offenbar niemand sie verstanden.
»Was?«, fragte Doris.
»Da ist er«, wiederholte Janie, »da ist der Mann.«
»Du lieber Himmel«, sagte Doris, »wo denn?«
»Was hast du gesagt?«, fragte Stella.
»Sie sieht den fremden Mann«, erklärte Doris, und plötzlich ging ein Ruck durch die ganze Gruppe. Janie bemerkte, dass Superintendent Bakers Gesicht auf einmal ganz dicht vor ihrem war. »Den Mann, der dich angesprochen hat? Er ist hier? Wo?«
»Dort.« Sie wies in die Richtung, wo sie ihn sah. Es wimmelte von Menschen.
»Welcher?«, fragte Stella wieder. Sie hatte einen völlig veränderten Gesichtsausdruck. Janie fragte sich plötzlich, ob sie wohl eine Pistole hatte, diese ziehen und den Mann hier vor aller Augen erschießen würde.
»Dort«, wiederholte sie, »dort drüben. Neben dem großen, schwarzen Auto.«
Endlich blickten alle Erwachsenen in die richtige Richtung.
»Jack?«, flüsterte Mrs. Quentin entgeistert. »Du meinst doch nicht Jack? Jack Walker?«
Im selben Moment sagte die Dünne mit dem kurzen Rock: »Das ist der Mann, der mir meine Tasche aufgehoben hat! In Hunstanton. Damals.«
Und dann stürmten auch schon Superintendent Baker und Stella los, und ohne dass Janie hätte sagen können, woher, tauchten plötzlich zahlreiche uniformierte Polizisten auf. Wo hatten die vorher gesteckt?
Janie schrie auf, drehte sich um und drückte das Gesicht gegen den Bauch ihrer Mutter, vergrub sich in dem dünnen Baumwollstoff des schwarzen T-Shirts, das Doris trug. Sie hatte entsetzliche Angst, sehen zu müssen, wie der Mann erschossen wurde. Erschossen, weil sie auf ihn gezeigt hatte.
»Was ist denn? Was ist denn?«, hörte sie Doris wie aus weiter Ferne fragen.
»Nicht schießen«, presste sie hervor.
»Sie schießen nicht«, sagte Doris. Ihre Hand strich über das Haar ihrer Tochter. »Sie schießen nicht, keine Angst. Sie verhaften ihn. Sie verhaften ihn doch nur.«
Janie begann haltlos zu weinen.


2
Es war eine jener Situationen, in denen Superintendent Baker sich tief im Innern wünschte, bestimmte Praktiken aus früheren Zeiten, da man die Folter zum Erzwingen von Geständnissen eingesetzt hatte, wären auch heute noch erlaubt.
Natürlich hätte er das niemals laut gesagt. Er wagte nicht einmal, so etwas wirklich zu denken. Eher handelte es sich um bestimmte Impulse, die sich untergründig in ihm abspielten und denen er nachdrücklich verbot, sich allzu weit hervorzuwagen.
Er und Stella waren seit nunmehr drei Stunden damit beschäftigt, Jack Walker zu verhören.
Ein sympathischer älterer Mann. Er erschien zuverlässig, hilfsbereit und nett.
Ein Mann, dachte Baker, dem ich meine Kinder wahrscheinlich ohne jeden Vorbehalt anvertraut hätte.

J
anie war sich absolut sicher gewesen. Jack Walker war der Mann, der sie im Zeitschriftenladen angesprochen hatte und mit zu sich nach Hause hatte nehmen wollen. Auch Liz Alby hatte ihn zweifelsfrei als einen Mann erkannt, der am fraglichen Tag in Hunstanton und zudem noch dicht hinter ihr und Sarah gewesen war. Baker hatte innerhalb einer Stunde einen richterlichen Durchsuchungsbeschluss in den Händen gehalten, der seine Beamten zum Durchsuchen von Jack Walkers Haus berechtigte. Sie hatten nichts Aufsehenerregendes gefunden, hatten aber Walkers Computer beschlagnahmt. Zur Zeit bemühten sich Spezialisten um den Zugang. Baker war fast sicher, dass sie auf Kinderpornografie stoßen würden.
Jack Walker, der die Quentins zum Friedhof gefahren hatte und später wieder erschienen war, um sie abzuholen, da Frederic Quentin in Sorge wegen des Parkplatzmangels gewesen war, stritt alles ab.
Er kenne keine Janie Brown. Er habe nie ein Mädchen in einem Zeitschriftenladen angesprochen und ihm das Veranstalten einer Kinderparty in Aussicht gestellt. Er sei überhaupt in diesem betreffenden Geschäft nie gewesen.
Baker hatte sich drohend vorgeneigt. »Nein? Dann müssen Sie eine Gegenüberstellung mit dem Inhaber des Ladens nicht fürchten, oder? Er könnte ja bestätigen, Sie nie gesehen zu haben!«

W
alker war zum ersten Mal eingeknickt. Beschwören könne er es nicht, dort nie gewesen zu sein. Natürlich kaufe er sich auch Zeitungen und Zeitschriften, mal hier, mal dort. Vielleicht auch in jenem Geschäft. Er habe nicht gewusst, dass das verboten sei.
»Wo waren Sie am Montag, den siebten August?«, fragte Baker.
Walker überlegte, hob dann in einer hilflosen Geste beide Arme. »Das weiß ich wirklich nicht mehr. Am siebten August? Meine Güte, wissen Sie noch, was Sie am siebten August getan haben?«
»Um uns geht es hier nicht!«, betonte Stella mit scharfer Stimme.
»Ich will Ihnen ein wenig auf die Sprünge helfen«, sagte Baker. »Der siebte August war ein heißer, sonniger Tag, und ich denke, Sie beschlossen, ihn am Meer zu verbringen. Entweder mit dem Auto oder mit dem Bus fuhren Sie nach Hunstanton hinaus. Ich unterstelle Ihnen nicht, dass Sie irgendetwas Böses im Schilde führten. Wahrscheinlich wollten Sie wirklich nur schwimmen oder einfach in der Sonne liegen.«
»Nein. Ich war seit vielen Jahren nicht mehr in Hunstanton!«
»Am Busparkplatz dort wurden Sie Zeuge einer hitzigen Kontroverse zwischen einer jungen Frau und deren vierjähriger Tochter. Das kleine Mädchen bettelte um eine Karussellfahrt, schrie und tobte, als es diese nicht bewilligt bekam. Es sträubte sich so dagegen, mit der Mutter weiterzugehen, dass dieser schließlich die Tasche herunterfiel. Sie hoben sie ihr auf. Die junge Frau hat sich heute eindeutig an Ihr Gesicht erinnert.«

A
us einer nur Sekunden dauernden Begegnung glaubt sie mehr als vier Wochen später mein Gesicht zu kennen? Ist das alles, worauf Sie Ihre Beschuldigungen gegen mich gründen, Superintendent? Auf die Behauptung eines kleinen Mädchens, das zweifellos von Ihren Leuten unter Druck gesetzt wurde, einen ominösen fremden Mann wiederentdecken zu müssen, und auf das zweifelhafte Erinnerungsvermögen einer Asozialen, die sich wichtig machen möchte? Deswegen halten Sie mich hier fest und reden seit Stunden auf mich ein?«
»Wissen Sie«, sagte Stella, »wir haben eine Speichelprobe von Ihnen, und in wenigen Stunden werden wir Sie anhand der DNA-Analyse überführt haben. Sowohl bei Sarah Alby als auch bei Rachel Cunningham haben wir genügend Spuren gefunden. Sie kommen aus dieser Geschichte nicht mehr heraus, Mr. Walker. Ein Geständnis zum jetzigen Zeitpunkt kann Ihre Lage nur verbessern und würde später vom Richter positiv bewertet. Vielleicht möchten Sie jetzt doch einen Anwalt hinzuziehen? Er würde Ihnen mit Sicherheit das Gleiche sagen.«
»Ich brauche keinen Anwalt«, sagte Jack Walker störrisch, »denn ich habe nichts verbrochen.«
»Warum haben Sie Rachel Cunningham ausgewählt?«, fragte Baker. »Zufall? Oder war sie Ihr Typ?«
»Ich kenne keine Rachel Cunningham.«
»Was haben Sie Sarah Alby versprochen, wenn sie mit Ihnen kommt? Eine Karussellfahrt?«
»SarahÉ? Ich kenne keine Sarah.«
»Wo ist Kim Quentin? Was haben Sie mit Kim Quentin gemacht?«
Zum ersten Mal war ein Flackern in Jack Walkers Augen. »Kim? Ich könnte Kim niemals etwas antun! Nie!«
»Aber den anderen Kindern? Sarah Alby und Rachel Cunningham?«
»Die kenne ich nicht.«
»Wo waren Sie am Sonntag, den siebenundzwanzigsten August?«
»Das weiß ich nicht.«
»Gehen Sie nicht an jedem Sonntagvormittag zu einem Stammtisch?«
Wieder war da ein Flackern in Walkers Augen. »Ja.«
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 25.04.2007