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Freitag, 8. September1
Der Friedhof war schwarz von Menschen.
Rachel Cunningham muss sehr beliebt gewesen sein, dachte Janie. Sie fragte sich, ob wohl auch so viele Leute gekommen wären, wenn man sie beerdigt hätte. Ihre Schulklasse bestimmt. Und ihre Lehrer. Vielleicht auch ein paar Nachbarn.
Aber niemals so viele Menschen!
Sie und ihre Mutter standen ganz weit hinten, so dass Janie weder Rachels Eltern und ihre Schwester sah, noch mitbekam, was unmittelbar am Grab passierte. Sie war froh darum. Sie mochte den Sarg nicht sehen und schon gar nicht miterleben, wie er in die Erde gesenkt wurde.
Am Vorabend war Stella noch einmal bei ihnen in der Wohnung erschienen, hatte ihr ein Foto von einem Mann gezeigt und gefragt, ob das vielleicht der nette Herr aus dem Zeitschriftenladen sei. Janie hatte sofort verneint und den Eindruck gehabt, Stella schon wieder zu enttäuschen. Das erschien ihr als das Schrecklichste an der ganzen Geschichte: Immerzu erwarteten die Erwachsenen etwas von ihr, und nie konnte sie sie zufrieden stellen. Sie hörte, wie Doris leise fragte: »Haben Sie den verhaftet?«
Und wie Stella ebenso leise antwortete: »Möglicherweise geht es dabei um eine ganz andere Geschichte.«

J
anie wünschte, sie hätte ihn erkannt. Dann hätte sie heute vielleicht nicht auf den Friedhof gemusst. Im Augenblick wäre sie sogar lieber in der Schule. Alles wäre besser, als hier inmitten eines Albtraums zu stehen und sogar eine der Hauptrollen darin zu spielen.
Stella war auch da. Sie war schwarz gekleidet wie alle Menschen hier und stand ein paar Schritte von Janie und Doris entfernt. Sie hatte gesagt, Janie solle sich gründlich umschauen, ob sie vielleicht den Mann aus dem Zeitschriftenladen wiedererkannte, und dann solle sie dies Stella möglichst unauffällig sagen.
Janie schaute und schaute, aber sie konnte ihn nirgends entdecken. Eigentlich war sie darüber ganz froh, denn sie mochte ihn gar nicht wiedersehen. Andererseits wusste sie, dass Stella sich freuen würde, wenn sie ihn plötzlich aus der Menge herausfischte. Janie seufzte tief. Wann würde das alles endlich vorbei sein?
Stella zwinkerte ihr aufmunternd zu. Wenigstens eine, die nicht weinte. Fast allen Leuten ringsum liefen die Tränen über das Gesicht, sie hielten Taschentücher in den Händen oder wischten sich mit den Fingern immer wieder an den Augen entlang. Auch Mummie hatte ein paar Mal leise geschluchzt. Dabei kannte sie das tote Kind doch gar nicht.
Die Menschen gingen alle nacheinander zu dem Grab und warfen Blumen hinein oder legten Kränze ab. Doris und Janie blieben jedoch, wo sie waren.
»Ich möchte Janie nicht überfordern«, sagte Doris zu Stella, und Stella nickte. »Okay.«

L
angsam bewegten sich alle zum Ausgang des Friedhofs. Viele blieben auch noch in Gruppen zusammen stehen, unterhielten sich mit gedämpften Stimmen. Eine bleierne Schwere lastete über den Menschen, dem Ort.
»Mum, können wir jetzt bitte gehen?«, flüsterte Janie.
»Du hast ihn wohl nirgends gesehen?«, fragte Stella.
»Nein. Aber vielleichtÉ« Janie zuckte hilflos mit den Schultern. »Es sind so furchtbar viele Leute hier!«
»Der Kerl wird sich doch denken, dass heute die Polizei da ist«, meinte Doris.
Stella nickte. »Aber der Typ ist krank«, erinnerte sie, »und irgendwann vergisst er jede Vorsicht. Im Übrigen vermutet er wahrscheinlich nicht, dass wir Kontakt zu Janie haben. Und sie ist im Grunde die Einzige, die ihm gefährlich werden kann.«
»Können wir gehen?«, fragte Doris.
»Ich denke, ja«, antwortete Stella.
Langsam schoben sie sich in Richtung Ausgang. Es war nicht einfach, in der dichten Menschenmenge voranzukommen. Janie entdeckte einen der Männer, die sie auch auf dem Polizeirevier kennen gelernt hatte - wie hieß er noch gleich? Baker. Er stand mit einem Mann und zwei Frauen zusammen. Der Mann trug einen schwarzen Anzug und sah aus wie ein Lord - Janie hatte Bilder von Lords in den Illustrierten gesehen, die Doris manchmal las -, und die eine Frau hatte eine wilde, dunkle Haarmähne, trug einen ziemlich kurzen Rock und war sehr dünn. Die andere Frau sah so blass aus, als müsste sie jeden Moment umfallen. Janie wusste das, weil ihre Mummie einmal umgefallen war, und da hatte sie kurz vorher genau die gleiche Gesichtsfarbe gehabt.
Stella trat an die kleine Gruppe heran, und Baker fragte: »Nichts?«
Stella schüttelte den Kopf.
»Bei uns auch nicht«, sagte Baker.
»Ich weiß ja leider nicht einmal genau, nach wem ich eigentlich Ausschau halten soll«, meinte die dünne Frau mit dem kurzen Rock.
Baker machte die Erwachsenen miteinander bekannt. »Mrs. Alby.« Das war die Dünne. »Mr. und Mrs. Quentin.« Das waren der Lord und die Frau, die gleich ohnmächtig werden würde. »Mrs. Brown.« Das war Mummie. Jetzt wies Baker auf sie, Janie. »Das ist Janie Brown.«
Mrs. Quentin neigte sich zu ihr und gab ihr die Hand. »Hallo, Janie!«
»Hallo«, erwiderte Janie. Sie hatte nie einen Menschen mit traurigeren Augen gesehen als diese Frau. Ihre Lider waren dick geschwollen. Sie musste heute schon viel geweint haben.
»Tja«, sagte Superintendent Baker, »dann kann ich mich nur bedanken, dass Sie hierher gekommen sind. Ich weiß, dass ich Ihrer aller Nerven sehr damit strapaziert habe. Aber es war eine Chance. Eine geringe natürlich, zugegebenermaßen.«
»Es war doch selbstverständlich, Superintendent«, sagte Mr. Quentin, den Janie insgeheim nur den Lord nannte.

D
ie Menschen strömten jetzt an ihnen vorbei durch das breite Friedhofstor auf die Straße. Janie versuchte, jedem Einzelnen ins Gesicht zu blicken, was angesichts der großen Menge nicht einfach war. Sie hätte ihn so gern gefunden, so gern. Weil Stella so nett war, aber auch weil sie Mummie so viel Kummer gemacht hatte in den letzten Wochen. Ihretwegen ging Mum nun schon den zweiten Tag nicht zur Arbeit und würde bestimmt Ärger bekommen. Es hätte sie erleichtert, etwas von all dem wieder gutmachen zu können.
Sie fing ein anerkennendes Lächeln von Stella auf. Die Beamtin hatte registriert, dass sie noch nicht abgeschaltet hatte, sondern sich weiterhin Mühe gab. Ihr Lächeln war ein Lob, das Janie sehr freute.
Die letzten Menschen verließen den Friedhof.
»So«, meinte Baker, »das warÕs dann.«
Die Gruppe wandte sich zum Gehen.
»Schöner Mist«, sagte die Dünne mit dem kurzen Rock, und Janie fragte sich, was genau sie wohl damit meinte. Die Tatsache, dass sie den fremden Mann nicht gesehen hatten? Oder den Umstand, dass überhaupt solche Dinge passierten - dass Kinder entführt und getötet wurden und man sich am Ende auf einem Friedhof wiederfand, wo alle weinten und man schreckliche, beklemmende Gefühle bekam?
Und warum muss ich ein Teil davon sein?, fragte sich Janie verzweifelt. Warum konnte mein Leben nicht ganz normal weitergehen?

S
ie hatte das bedrohliche Gefühl, dass ihr Leben nun nie wieder ganz normal sein würde. Sie hätte nicht zu erklären gewusst, weshalb sie das glaubte, aber die Angst war einfach da. Und mehr als Angst: eigentlich eine Gewissheit. Es hing mit Rachel Cunninghams Sarg zusammen.
Sie hatte begriffen, wie dicht daran sie gewesen war, selbst in solch einem Sarg zu liegen.
Wann immer sie bisher Mummie nach dem Tod und dem Sterben gefragt hatte, war die Antwort gewesen: »Das hat noch lange Zeit! Erst wenn du ganz alt bist, musst du darüber nachdenken.«
Sie hatte das als sehr beruhigend empfunden. Etwas, das so weit weg war, fühlte sich nicht gefährlich an. Aber von jetzt an würde sie nie mehr denken können, dass der Tod in unüberschaubarer Ferne stand. Jetzt war er auf einmal ganz nah an sie herangekommen. Die anderen Kinder konnten weiterhin so tun, als gebe es den Tod gar nicht. Sie nicht.
Vielleicht bin ich jetzt gar kein richtiges Kind mehr, dachte sie, und ein seltsamer Schauer ging durch ihren Körper.
Sie standen jetzt draußen. Überall stiegen die Trauernden in ihre Autos. Es herrschte ein undurchdringliches Gewirr von Wagen, die sich langsam aus Parklücken herausschoben und in Richtung Straße rollten. Für den Moment entstand ein richtiges Verkehrschaos, aber anders als es gewöhnlich in solchen Situationen der Fall war, gab es niemanden, der lautstark seine Ungeduld gezeigt oder gar gehupt und geschimpft hätte. Weder quietschten Bremsen noch heulten Motoren. Alles war seltsam lautlos.
Weil es so traurig ist, dachte Janie, und das Gefühl der Trauer legte sich schwer und bleiern über sie.
»Ich darf mich dann verabschieden«, sagte Baker. Zuerst gab er Mrs. Quentin, der traurigen Frau mit den verweinten Augen, die Hand und fügte hinzu: »Ich melde mich nachher noch bei Ihnen.«
Mrs. Quentin nickte. Ihre Trostlosigkeit war herzzerreißend.

(wird fortgesetzt)

Artikel vom 24.04.2007