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Sie tranken zusammen ein Glas Sekt aus der Minibar und plauderten über Belanglosigkeiten, und dann schliefen sie miteinander, und Andrew sagte, Virginia rieche nach Erde und Gras und sei ihm noch nie zuvor so verführerisch erschienen. Sie selbst fühlte die Leichtigkeit, die sie stets in seinen Armen empfunden hatte, und diese berauschende Mischung aus Aufregung, Atemlosigkeit und dem Gefühl, jung zu sein. Leben. Andrew gab ihr ein Empfinden von Leben, das Michael in ihr nicht zu wecken vermochte.
»Warum verlässt du ihn nicht?«, fragte Andrew hinterher, als sie nebeneinander lagen und Virginia gerade auf ihre Uhr geschaut und erschreckt festgestellt hatte, wie spät es schon war.
»Warum willst du nicht mit mir leben?«, fragte sie zurück.
Er seufzte tief. »Du weißt, warum. Es geht einfach nicht. Nicht mehr.«
»Und warum wolltest du mich heute Abend treffen?«
»Weil ich dich nicht vergessen kann.«

U
nd ich dich auch nicht, dachte sie zornig, aber im Grunde liegt das nur daran, dass Michael mich zu Tode langweilt. Nur von diesem Umstand hast du heute profitiert, nur davon!
Sie schwang die Beine aus dem Bett, suchte ihre zerknüllte Wäsche zusammen. »Das wird sich nicht wiederholen, Andrew. Bitte. Ruf mich nicht mehr an.«
»Wirklich nicht?«
»Wirklich nicht!«, sagte sie fest, verließ das Zimmer und widerstand der Versuchung, die Tür hinter sich zuzuschmettern.

W
ährend der ganzen Heimfahrt ärgerte sie sich. Er hatte sie herbeizitiert wie ein kleines Mädchen, und sie war auch tatsächlich wie auf Kommando gesprungen.
Ich muss das ein für alle Mal beenden, dachte sie.
Es war nicht weit bis St. Ives, aber diesmal schien sich der Weg endlos zu dehnen. Es war fast elf Uhr! Womöglich war Michael bereits daheim, und was sollte sie dann sagen? Sie konnte dann nur etwas von einem spontanen Treffen mit einer Freundin erzählen und zu Gott beten, dass er nicht ausgerechnet diese Freundin in den nächsten Tagen traf. Außerdem musste sie noch unter die Dusche. Sogar sie selbst konnte den Geruch der Liebe an sich deutlich wahrnehmen, um wie viel stärker musste ihn ein anderer empfinden.
Sie fuhr viel schneller, als es erlaubt war, geriet aber zum Glück nicht in eine Verkehrskontrolle. Als sie in die Einfahrt ihres Hauses bog, schaute sie sofort nach oben, konnte aber nirgends ein Licht erkennen. Entweder Michael schlief schon - was unwahrscheinlich war, solange er nicht wusste, wo sie steckte -, oder sie hatte mehr Glück gehabt, als sie verdiente: Er war noch nicht daheim.
Sie parkte das Auto am Hang, genauso, wie er es am Nachmittag abgestellt hatte, sprang hinaus und lief zum Haus hinüber. Sie schloss die Tür auf, knipste das Licht an und rief unsicher: »Michael? Bist du da?«

Niemand antwortete. Sie warf ihre Handtasche in eine Ecke, hastete ins Bad, streifte all ihre Kleider ab und vergrub sie ganz unten im Wäschekorb. Kaum hatte sie geduscht, hörte sie, wie die Haustür aufgeschlossen wurde. Michael kam zurück.
Sie hüllte sich in ihr Handtuch und lehnte sich für einen Moment tief seufzend gegen die kühlen Kacheln der Badezimmerwand.
Sie hatte Glück gehabt, aber es war eine entwürdigende Situation, in die sie sich da gebracht hatte. In diesem Moment war sie fest entschlossen, etwas an ihrem Leben zu ändern. Sie würde sich entweder ganz und gar auf Michael einlassen oder sich von ihm trennen.
Wahrscheinlich eher trennen, dachte sie.

7

Ein einziges Licht nur brannte in der Küche. Virginia saß regungslos auf ihrem Stuhl. Die ganze Zeit über, während sie sprach, hatte sie sich nicht bewegt. Sie hatte mit einer seltsam monotonen Stimme gesprochen, hatte sich selbst wie aus der Ferne zugehört.
Nun schwieg sie, starrte an Frederic vorbei, zum Fenster hinaus in die Dunkelheit.
Nach einer Weile, in der kein anderer Laut zu hören war als das leise Brummen des Kühlschranks, sagte Frederic: »Du hast den Wagen zuletzt gefahren. Nicht Michael, wie du ihn hast glauben lassen. Du warst es.«

S
ie sah ihn nicht an. »Ja. Ich war es. Und ich war es auch, die vergessen hat, das Auto abzuschließen. Ich stellte es ab und rannte ins Haus, und am nächsten Morgen konnte der kleine
Tommi ohne Probleme einsteigen.«
»Und das alles hast du Nathan Moor erzählt?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein. So weit sind wir nicht gekommen. Er kennt nur die Vorgeschichte. Meine Kindheit und Jugend mit Michael. Die Affäre mit Andrew. Tommis Tod. Er weiß nicht, dassÉ«
»Édass Michael schuldlos war«, vollendete Frederic.
Sie nickte.
»Mein Gott«, sagte Frederic, »von diesem Andrew wusste ich ja bislang auch nichts.«
Sie winkte ab. »Es ist so lange her. Er war wirklich nur eine Affäre, auch wenn ich mir einbildete, er sei meine große Liebe. Ein verheirateter Mann. Der sich nicht entschließen konnte, Frau und Kind für mich zu verlassen.«
»Wie banal«, sagte Frederic.
Sie schwiegen beide. Schließlich fuhr Frederic fort: »Mit der Treue hast du es noch nie sehr genau genommen, scheint mir.«
Was sollte sie darauf erwidern?
»Ich habe Michael mit Andrew betrogen«, sagte sie, »aber das war nicht das Schlimmste. Das Schlimmste warÉ«

E
r stand auf, machte ein paar Schritte, so als wolle er sich vergewissern, dass er nicht nur träumte oder sich die Situation nur einbildete.
»Michael ist an dem Trauma seiner Schuld zerbrochen«, sagte er, »und du hast ihn in dem Glauben gelassen, er habe Tommis Tod zu verantworten. Warum hast du das getan, Virginia? Warum?«
»Ich weiß es nicht. Ist das noch wichtig?«
»Es passt nicht zu dir. Du bist nichtÉ feige.«
»Vielleicht doch.«
Er blieb stehen, sah sie an. »Ich verstehe jetzt den Schatten über deinem Leben.«
»Er hat ein Foto gefunden«, sagte Virginia, »Nathan. Ein Foto von mir, als ich jung war. Er sagte, er könne es nicht in Einklang bringen. Die junge Virginia. Und die Frau, die er vor sich hatte. Er sagte, irgendetwas müsse geschehen sein. Er gab sich nicht zufrieden. Auch nicht mit dem Eingeständnis von Tommis Tod. Er wusste, dass da noch etwas war. AberÉ ich kam nicht mehr dazu, ihm davon zu erzählen.«
»Du wirfst mir vor, nicht so hellseherisch veranlagt gewesen zu sein wie er? Dich nicht gefragt zu haben?«

N
ein. Ich werfe dir gar nichts vor. Wie käme ich dazu, gerade ich? Nach allem, was ich angerichtet habe. Ich habe so viel Leid über so viele Menschen gebracht.« Sie schloss kurz die Augen. »Ich wollte es Michael sagen. An jedem einzelnen Tag danach wollte ich es ihm sagen. Dass ich die Affäre mit Andrew gehabt hatte. Dass ich zu diesem idiotischen, unsinnigen Treffen mit ihm nach Huntingdon gefahren war. Dass ich danach offensichtlich vergessen hatte, den Wagen abzuschließen, in meiner Hast, noch vor ihm wieder daheim und im Haus zu sein. Dass Tommi allein meinetwegen hat sterben müssen. Ich schob es vor mir her. Ich glaube heute, es war nicht einmal so sehr deswegen, weil ich mir nicht vorstellen konnte, es ihm zu sagen. Aber es auszusprechen hätte auch bedeutet, meinen eigenen Verfehlungen selbst ins Gesicht zu sehen. Es auszusprechen hätte bedeutet, dass es Wirklichkeit wird. Es hätte bedeutet, dass ich es nie wieder hätte verdrängen können. Und davor habe ich mich gefürchtet. So sehr gefürchtet, dass ich froh war, als Michael weg war. Und ich es ihm gar nicht mehr sagen konnte.«

S
ie hatte sehr leise gesprochen am Ende, den Kopf tief gesenkt. Sie blickte ungläubig auf, als Frederic sagte: »Ich habe dich vorhin nach dem Warum gefragt. Aber jetzt glaube ich, dass es darauf gar keine Antwort gibt. Ich verstehe dich auch so.«
»Was?«
»Ich verstehe dich. Ich kann verstehen, dass du Michael nichts gesagt hast. Ich kann deine Qual verstehen. Deinen verzweifelten Versuch, das alles zu verdrängen. Ich kann es verstehen. Vielleicht hätte ich genauso gehandelt.«
In tiefster Überzeugung erwiderte Virginia: »Du nicht. Niemals.«
Er musste fast lächeln angesichts ihres Glaubens an seine Integrität. »Ich neige auch dazu, den Kopf in den Sand zu stecken, Virginia, das weißt du.«
Leise sagte sie: »Vielleicht neigen wir alle manchmal dazu.«

I
n einer fast zärtlichen Geste - wie sie in den letzten Tagen zwischen ihnen nicht mehr üblich gewesen war - strich er ihr über die Haare.
»Du wirst es in Ordnung bringen müssen«, sagte er, »wenn du deinen Frieden finden willst. Dich hinter dunklen Bäumen zu verstecken, um zu vergessen, und dich zwischendurch in die Arme der Nathan Moors dieser Welt zu stürzen, um dich selbst zu spüren - das wird auf Dauer nicht funktionieren. Ganz gleich, ob du mit mir zusammen bist oder mit irgendjemand anderem. Es wird nicht funktionieren.«
Sie nickte langsam.
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 23.04.2007