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Kaffee und Kuchen für die Protestanten

Paul-Gerhardt-Kirche weiter besetzt: Basis solidarisch - Offizielle suchen nach Lösungen

Von Gerhard Hülsegge und Bernhard Pierel (Fotos)
Bielefeld (WB). Sie nächtigten auf Kirchenbänken, hatten Brot, Käse und Getränke dabei. Selbst eine Mega-Luftmatratze gehörte zur Ausrüstung jener vier Männer, die in der Nacht auf Montag die Paul-Gerhardt-Kirche in Bielefeld besetzt gehalten haben, um deren Verkauf an die Jüdische Kultusgemeinde zu verhindern.

»Ich habe in der Sakristei geschlafen, weil ich so sehr schnarche und die anderen nicht stören wollte«, sagte Hermann E. Geller gestern Morgen zum WESTFALEN-BLATT. Der 66-jährige Ex-Kirchmeister der ehemals selbständigen Paul-Gerhardt-Gemeinde, die seit September 2005 zu Neustadt-Marien gehört, hatte zusammen mit Reinhold Patzer (77), Bernd Eder (48) und Eitel Riefenstahl (71) im Gotteshaus ausgeharrt, um unterm Kreuz gegen die vom Kirchenkreis beschlossene Veräußerung zu demonstrieren.
Wie berichtet, hatten am Sonntag nach dem vorerst letzten Gottesdienst Mitglieder einer Bürgerinitiative mit schwarzen Fahnen für den Erhalt der Kirche demonstriert und waren nicht von ihren Bänken aufgestanden, als das Gros der Menschen mit Tränen in den Augen die Kirche verließ. Die Besetzer, die sich alle drei Stunden ablösen, wollen die Gottesdienste sonntags um 10 Uhr künftig selbst organisieren. »Auswärtige wie pensionierte Pfarrer und Kirchenmusiker gibt es genug«, sagt Geller. »Vielleicht halten wir auch Gebetsstunden ab oder singen eine halbe Stunde«.
Denn an Zuspruch aus der Bevölkerung mangelt es nicht. Nachbarn bringen Kaffee und Zeitungen, Bürger wie Pfarrer kommen vorbei, um - wenn auch anonym - Solidarität zu bekunden. Das Fernsehen war gestern da. Die Krabbelgruppe im Keller des Gebäudes sorgt zudem für ein reges Kommen und Gehen.
Die Kirchenoberen haben zwar bekundet, sie wollten auf eine Zwangsräumung verzichten. Allerdings haben sie die Toiletten abgeschlossen. Geller hatte deshalb extra einen Nachtstuhl mitgebracht. »Für Notfälle«, wie er sagt. Für den Kirchenraum besitzt er einen der 30 Generalschlüssel.
»Wir haben nichts, aber auch gar nichts gegen Juden«, verwahrte sich Claus-Rudolph Grünhoff, Vorsitzender Richter am Landgericht und Mitglied der rund 90 Mitglieder umfassenden Bürgerinitiative, gegen den Vorwurf des Antisemitismus. Im Gegenteil, die Jüdische Kultusgemeinde sei überaus willkommen, um etwa auf dem Nachbargrundstück eine ganz neue Synagoge zu bauen. Wie die Vorsitzende Irith Michelsohn gestern erklärte, liefen die Verhandlungen über den Kauf der Paul-Gerhardt-Kirche weiter. Zu weiteren Kommentaren war sie nicht bereit.
Wie man der Kirchenbesetzung begegnen soll, macht auch die Kirchenoberen ratlos. »Die Abstimmungsprozesse laufen auf allen Ebenen«, sagte Astrid Weyermüller, Referentin für Öffentlichkeitsarbeit des Evangelischen Kirchenkreises Bielefeld. Geller wünscht sich ein Machtwort von der Landeskirche, sieht die Paul-Gerhardt-Kirche allein durch freiwillige Kirchgelder und Spenden mit einem Überschuss von 12000 Euro in 2007 für die nächsten drei bis vier Jahre finanziell abgesichert. Auch habe er »nie für den Verkauf gestimmt«. Dass dies nach der Fusion 2005 mit den »Neustädtern« Thema geworden sei, empfindet er als »Vertrauensbruch«.
Auch sieht er in Pastor Alfred Menzel denjenigen, der das Gemeindeleben in der Paul-Gerhardt-Gemeinde durch »Arroganz und Selbstherrlichkeit« zum Erliegen gebracht habe. Der Seelsorger seinerseits bezeichnete die Opponenten gestern als »Verrückte, die die Wirklichkeit nicht begreifen und die man nicht ernst nehmen kann«. »Eine Einschätzung, die Luise Marie Winter nicht teilen mag. Die 83-jährige versorgte die Besetzer gestern Nachmittag deshalb mit Rhabarber-Kuchen. Und Martin Brückner (80) kam mit Cappuccino und selbst gebackenem Rosinenkuchen vorbei...

Artikel vom 27.03.2007