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Er fühlt sich jung -Êwie 80

Hermann Henke (102) zehn Tage nach Herz-OP wieder fit

Von Christian Althoff
Bad Oeynhausen (WB). Hand aufs Herz: Sieht dieser Mann aus wie ein 102-Jähriger, der noch vor zehn Tagen schwerkrank auf dem Operationstisch eines Herzchirurgen gelegen hat?
Den Gehstock trägt er nur für alle Fälle bei sich. »Ich komme noch immer ohne Hilfe aus dem Sessel«, sagt Hermann Henke, der zwei Töchter, zwei Enkelsöhne und fünf Urenkel hat. Fotos: Althoff

Hermann Henke aus Kalletal-Erder (Kreis Lippe) ist der älteste Patient, der bisher im NRW-Herzzentrum Bad Oeynhausen versorgt worden ist. Wie berichtet, hatte ihm ein Chirurg am Montag vergangener Woche einen Herzschrittmacher eingesetzt. Am Tag darauf war der Senior entlassen worden, seitdem erholt er sich im Haus seiner Tochter Karin Lenger in Bad Oeynhausen.
»Sie müssen laut sprechen, ich höre nicht mehr so gut!«, sagt Hermann Henke, der in seinem Lieblingssessel sitzt und mit wachen Augen das Treiben um sich herum beobachtet. Seine Tochter Karin, sein Enkel mit Ehefrau und drei Urenkel im Alter von vier, zehn und 14 Jahren leben hier im Haus. »Langeweile habe ich nicht!«, lacht Urgroßvater Henke.
102 Jahre und noch so fit? »Fragen Sie mich mal, wieviel ich in meinem Leben geraucht habe!«, schmunzelt der Senior. Er reckt zwei Finger in den Höhe - und meint Zigaretten. »Als ich ein junger Mann war, haben alle meine Freunde geraucht. Ich habe mir damals eine Fünfer-Packung gekauft. Die ersten beiden haben mir nicht geschmeckt, die restlichen habe ich verschenkt.« Und Alkohol? Hermann Henke nickt: »Doch, ich trink' schon mal ein Bierchen. In zwei Wochen hat mein Urenkel Timon Konfirmation. Da werde ich mir wohl wieder eines gönnen.«
Masern als Kind, ein Herzinfarkt mit 92 - an viel mehr Krankheiten kann sich Hermann Henke nicht erinnern. Und sein Gedächtnis ist gut! »Meine Lehre? Die fing am 19. Januar 1921 an«, sprudelt er los. Beim Kompressorenhersteller »Irmer & Elze« erlernte der 16-Jährige seinen Traumberuf und wurde Schlosser. 50 Jahre sollte er in dem Unternehmen bleiben, zuletzt als Ausbilder. »Ich hatte bis zu 70 Lehrlinge in meiner Werkstatt!«, sagt Uropa Henke stolz, der sich an viele Begebenheiten seines langen Lebens erinnert und sie gerne erzählt. »Wissen Sie«, sagt er, »zu meiner Kindheit waren Autos ja noch eine Seltenheit. Wenn der lippische Fürst Leopold in seinem offenen Wagen durch Erder kam, drückte der Fahrer auf die Mehrklanghupe. Wir sind dann rausgelaufen und haben gewinkt.« Auch zu den Anfängen des Rundfunks fällt dem 102-Jährigen etwas ein: »Ein Arbeitskollege sagte: Bald gibt's das erste Radio in Oeynhausen. Ein anderer fragte, was das sei, und der Mann antwortete: Wenn die in Berlin etwas sagen, können wir das hier hören, das kommt durch die Luft! Der andere Kollege glaubte, es seien Schallwellen gemeint. Er hielt sich die Ohren zu und sagte: Den Klamauk soll man den ganzen Tag ertragen?«, erzählt der alte Mann und muss lachen.
1937 heiratete Hermann Henke seine Käthe. Als zwei Jahre später der Zweite Weltkrieg begann, blieb ihm der Dienst an der Front wegen seiner Ausbildertätigkeit erspart. »Ich hätte keinen Menschen töten können«, sagt der Rentner und erzählt von einem Schlüsselerlebnis: »Als Kinder sangen wir ein Lied, in dem es hieß, man müsse die Franzosen totschießen. Da sagte meine Großmutter: Du willst doch nicht, dass ein Franzose deinen Vater erschießt, und die französischen Kinder wollen nicht, dass wir ihre Väter töten. Diese Worte meiner Oma haben mich nie mehr losgelassen.«
Bis vor einem Jahr, als seine Käthe im Alter von 97 Jahre starb, hatten Hermann Henke und seine Frau noch allein in ihrem Haus in Erder gewohnt - unterstützt von Tochter Karin und Diakonieschwestern. Inzwischen lebt der Senior überwiegend bei seinen Verwandten in Oeynhausen, wo sein Tag mit einem immer gleichen Frühstück beginnt: Ein Glas Pflaumensaft, Milch mit Honig, ein Teller Haferflocken mit Milch und Traubenzucker, ein halbes Vollkornbrötchen mit Marmelade und Kaffee. »Haferflocken esse ich, seit ich denken kann. Ich glaube, die haben mich gesundgehalten«, sagt Hermann Henke.
Nach dem Frühstück zieht sich der Urgroßvater mit der Zeitung zurück und studiert mit Hilfe einer Lupe zuerst den Sportteil. »Ich war in jungen Jahren ja selbst Sportler«, erzählt er. Im Kunstradverein »Möwe Erder« sei er vor dem Zweiten Weltkrieg gewesen, und beim Fußballklub »Wacker Erder« habe er rechtsaußen gespielt: »100 Meter in elf Sekunden - so wie heute der Odonkor.« Die Schalker Legenden Fritz Szepan und Ernst Kuzorra habe er sogar persönlich gekannt: »Die lebten ein paar Jahre in Erder im Nachbarhaus. Man hatte sie aufs Land geschickt, damit sie sich ein bisschen Speck anfuttern.« Schalke ist noch heute der Lieblingsverein Hermann Henkes. »Neben Arminia Bielefeld. Aber die steigen ja wieder ab. . .«
Übermorgen wird Hausarzt Joachim Schmidt die Fäden aus der Brust des Rentners ziehen. »Dr. Schmidt hatte mir schon lange zu einem Schrittmacher geraten, aber ich wollte das nicht - auch, weil ich mich vor der OP gefürchtet habe.« Heute ist der Senior, der am 6. Juli 103 Jahre alt wird, froh, dass er doch im Herzzentrum war. »Die Zeiten, in denen mein Herz nur noch 30 Mal pro Minute schlug, mir schwindelig wurde und ich Todesängste hatte, sind vorbei«, sagt Hermann Henke und strahlt: »Ich fühle mich wieder jung - wie 80!«

Artikel vom 22.03.2007