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Sie versuchte etwas zu sagen, brachte aber nur Wortfetzen hervor. »Nathan«, gelang es ihr endlich zu sagen, »NathanÉ es war, weilÉ er gefragt hat. Weil er nach Michael gefragt hatÉ«
»Er hat nach Michael gefragt? Nach deinem Exfreund, der damals spurlos verschwunden ist?«
Irgendwie landete sie wieder auf ihrem Stuhl. Sie weinte noch immer, aber nicht mehr so, als werde sie von ihren eigenen Tränen davongeschwemmt.
Sie sah Frederic, der vor ihr kauerte.
»Er hat nach Michael gefragt?«
Sie nickte.


6Michael
E
s war einer der ersten wärmeren Abende des Jahres 1995, der
24. März, als Michael zum ersten Mal wieder beschloss, mit dem Fahrrad zum Training zu fahren. Der Winter war kalt und regnerisch gewesen, aber endlich ließen sich erste Anzeichen des nahenden Frühlings erahnen. Die Luft war mild und samtig und der Himmel von jenem lichten Blau, das nur der März hervorbringt. Überall schossen die Narzissen aus der feuchten, schwarzen Erde und öffneten weit ihre Blüten, und die Vögel sangen in einem endlosen Konzert.
Michael zog seinen dunkelblauen Trainingsanzug und seine Stiefel an, packte Turnschuhe, Handtuch und eine Flasche Mineralwasser in seinen Rucksack und rollte das Fahrrad aus der Garage. Schon am Nachmittag hatte er die Reifen geprüft und neu aufgepumpt. Tommi hatte daneben gestanden und fachmännische Ratschläge erteilt.
»Pass auf«, hatte Michael gesagt, »wenn am Sonntag schönes Wetter ist, machen wir zusammen eine Radtour. Okay?«
Tommi hatte über das ganze Gesicht gestrahlt. Später war er hinübergelaufen, um mit seiner Familie zu Abend zu essen, und Michael erklärte Virginia, dass es später werden könne. »Ich gehe mit den anderen hinterher wahrscheinlich noch was trinken. Rob hat heute Geburtstag, bestimmt gibt er da eine Runde aus.«
»In Ordnung.« Sie lächelte. »Amüsier dich. Ich gehe wahrscheinlich früh schlafen. Ich bin ziemlich müde.«
Es stimmte, sie war müde. Sie hatte den Nachmittag über im Garten gearbeitet, hatte, vom so plötzlich ausgebrochenen schönen Wetter inspiriert, Terrakottatöpfe aus der Garage geschleppt, mit frischer Erde gefüllt und sich über ihre Bepflanzung Gedanken gemacht. Sie hatte die Gartenmöbel auf die Terrasse getragen und ihnen den Winterstaub abgewaschen. Am liebsten hätte sie sich schon irgendein schwingendes, zartes Sommerkleid angezogen, aber dafür war es dann doch noch zu kühl. Vorläufig schienen ihr Jeans und Pulli trotz allem noch geeigneter.

A
m Vormittag war sie mit einem Referat beschäftigt gewesen. Normalerweise hätte sie in der Unibibliothek geholfen, hätte Bücher sortiert, umgeräumt und Titel und Standort in endlosen Listen in den Computer eingegeben. Der Job gefiel ihr, aber sie machte sich keine Illusionen: Es war eine Aushilfstätigkeit, kein Beruf. Sie musste endlich herausfinden, was sie in Zukunft wirklich arbeiten wollte. Andere schafften das auch. Gingen zielstrebig und ambitioniert ihren Weg. Nur sie wusste nicht so recht, was werden sollte. In keiner Hinsicht.
Was Michael anging, schließlich auch nicht. An ihrem Geburtstag Anfang Februar hatte er zuletzt gefragt, ob sie ihn heiraten wolle, sie hatte wie üblich ausweichend reagiert. Sie schämte sich, weil sie ihn hinhielt, aber sie brachte es nicht fertig, die Wahrheit zu sagen. Die Wahrheit hätte gelautet: »Nein, ich will dich nicht heiraten. Jetzt nicht und höchstwahrscheinlich auch später nicht. Aber ich lebe gern mit dir. Jetzt. Sicher nicht für immer.«

M
ichael war einfach auf einem völlig anderen Trip als sie. Er wollte seine Zukunft planen, wollte sie unter Dach und Fach bringen. Heiraten. Kinder bekommen. Er träumte von einem richtigen Familienleben. Sie musste nur beobachten, mit welcher Begeisterung er sich dem kleinen Tommi von nebenan widmete. Er liebte Kinder. Und er liebte die Sicherheit. Die gleichmäßige Abfolge ruhiger, geordneter Tage. Das Häuschen, den Garten. Seine Arbeit. Eine Frau, die da war, wenn er nach Hause kam. Einen Hund, der fröhlich um seine Beine herumtollte. Kinder, die ihm aufgeregt erzählten, was sie erlebt hatten. Denen er das Fahrradfahren beibringen und die er zum Fußballspielen mitnehmen konnte. Es waren keine unbescheidenen Wünsche, die er an das Leben hatte, und Virginia wusste, dass er ein Recht hatte, sein Leben nach seiner Fasson zu leben.

S
ie hatte so sehr gehofft, selbst einmal an den Punkt zu kommen, an dem er bereits war. Die innere Unruhe zu verlieren, die verhinderte, dass sie sich auf irgendetwas oder irgendjemand wirklich einließ. Auf einen Menschen, einen Lebensstil, auf einen Beruf. Warum gelang es ihr nicht, sich festzulegen? Warum nur hatte sie so oft diese fast zwanghafte Vorstellung, sie würde das eine versäumen, wenn sie sich auf das andere einließ? Es war lächerlich, es war kindisch. Aber sie bekam es nicht in den Griff.
Nachdem Michael aufgebrochen war, kehrte sie die Erde auf der Terrasse zusammen und ging ins Haus. Sie wusch sich lange die Hände, schrubbte ihre Fingernägel, unter denen Erde klebte. Sie schaute sich die Nachrichten im Fernsehen an, stand dann am Fenster und beobachtete, wie es ganz langsam dunkel wurde. Sie stellte sich vor, wie es wäre, in einem Penthouse in New York zu stehen und auf die Lichter der Stadt zu blicken. Ein Gedanke, der eine Sehnsucht weckte, die beinahe wehtat.

A
ls das Telefon klingelte, war ihr erster Impuls, es zu ignorieren und sich nicht zu melden. Vielleicht war es eine ihrer Freundinnen, die Lust auf ein langes Gespräch hatte, während sie selbst richtig müde war und mit niemandem reden wollte. Ins Bett gehen mit einem Glas Wein und einem guten Buch. Das war es, worauf sie Lust hatte.
Später fragte sie sich oft, ob ihre Scheu, den Hörer aufzunehmen, in etwas anderem begründet war als in ihrer Müdigkeit. Ob nicht ihr Unterbewusstsein eine Warnung ausgesprochen hatte. Denn die Tragödie, die sich später ereignete, wäre nicht geschehen, hätte sie den Apparat einfach läuten lassen und sich ins Bett gelegt.
Aber dann dachte sie, dass es Michael sein könnte, dessen Fahrrad vielleicht kaputt war und der abgeholt werden wollte, obwohl es dafür eigentlich zu früh war. Also überwand sie sich und hob ab.
»Virginia Delaney.«
Ein ganz kurzes Schweigen folgte, und dann erklang jene Stimme, bei der sie noch immer weiche Knie bekam und einen trockenen Mund: »Virginia? Hier ist Andrew.«
»Oh«, war alles, was sie als Reaktion hervorbrachte.
Wiederum herrschte ein Moment des Schweigens, dann fragte Andrew: »Wie geht es dir?«
Sie hatte sich wieder einigermaßen gefangen. »Gut. Danke. Wie geht es dir?«
»Auch gut. AberÉ«
»Ja?«
»Ich würde dich gern sehen«, sagte Andrew.
»Ich weiß nicht, ichÉ«
»Wenn es geht, jetzt gleich«, sagte Andrew.

S
ie hätte so vieles sagen können. Dass Michael da sei und sie nicht einfach wegkönne. Dass sie kein Auto habe. Dass sie müde sei. Oder sie hätte ihn fragen können, was er sich einbilde, einfach daherzukommen, abends um acht Uhr anzurufen und sie herbeizuzitieren. Sie hätte sagen können, er solle sich zum Teufel scheren, und dann einfach auflegen.
Stattdessen schaute sie zum Fenster hinaus. Dort parkte das Auto. Wie üblich am Hang. Michael hatte ja das Fahrrad genommen.
»Wo bist du?«, fragte sie.
»Im Old Bridge Hotel in Huntingdon.«
»In einem Hotel?«
Er lachte. »Im Restaurant des Hotels. Sie haben fantastisches Essen hier. Und eine große Auswahl an Weinen.«
Sie hatte ihn nie mehr wiedersehen wollen. Er hatte sie zu sehr verletzt. Sie wusste, dass es besser wäre, bei diesem Entschluss zu bleiben und jeden Kontakt mit ihm zu unterlassen.
»Okay«, sagte sie, »aber nur auf einen Drink!«
Sie konnte ihn durch die Leitung förmlich grinsen hören.
»Klar«, sagte er, »nur auf einen Drink!«
Für den weiteren Verlauf der Dinge war es unerheblich, was im Hotel geschehen war, es hatte nur insofern eine Bedeutung, als die Tatsache, dass ihre Begegnung weit über einen Drink hinausgegangen war, später ihre Schuldgefühle verschärfte. Sie waren nur kurz im Restaurant gewesen, dort aber nicht über eine Vorspeise hinausgekommen, weil die Begegnung mit Andrew Virginia so durcheinander brachte und zugleich so ärgerlich über sich selbst werden ließ, dass sie keinen Bissen herunterbekam.
Er hatte ihre Hand genommen und gefragt: »Soll ich nicht doch ein Zimmer nehmen?«
Und sie hatte genickt und sich dafür gehasst.
Sie war verschwitzt von der Gartenarbeit, und sie hatte absichtlich nicht geduscht, hatte keine frische Wäsche angezogen, in der Hoffnung, es wäre ihr dann vielleicht zu peinlich, mit ihm ins Bett zu gehen. Sie hatte vergessen - oder verdrängt -, dass ihr nie etwas zu peinlich gewesen war, wenn es um Andrew ging. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 21.04.2007