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Welchen Grund, dachte sie, sollte sie haben, mir Rede und Antwort zu stehen?
»Die Situation war schwierig für ihn«, erklärte Livia schließlich, »aber er hat daran mitgewirkt, sie zu erhalten. Wissen Sie, ich hatte größte Probleme, meinen schwerbehinderten Vater in ein Heim zu geben. Aber immer dann, wenn ich mich doch einmal dazu durchgerungen hatte - und ich kam etliche Male an diesen Punkt -, dann hat Nathan sich wieder dagegen gewehrt. Da er meinen Vater hasste, glaube ich nicht, dass er ihn beschützen wollte. Vielmehr war ihm klar, dass dann kein Geld mehr fließen würde. Wir lebten ausschließlich von meinem Vater, und das wäre dann nicht länger möglich gewesen. Nathan hätte nicht gewusst, wie es weitergehen sollte.«
»Er kann mit dem Schreiben also nichts verdienen?«
Livia lachte, und dann sagte sie das Härteste, was sie je über ihren Mann gesagt hatte: »Er hat nicht genug Talent. Er ist nicht fleißig genug. NathanÉ hat nicht von dem Roman geträumt. Nathan hat immer nur vom schnellen Geld geträumt. Von nichts anderem.«
»Ihm liegt sehr viel an Geld.«

Ich würde sagen«, erwiderte Livia, »dass er von morgens bis abends über fast nichts anderes nachdenkt.«
Virginia nickte, dann fiel ihr ein, dass Livia ihr Nicken nicht sehen konnte und auf eine Antwort wartete.
»Danke«, sagte sie, »ich werde Sie anrufen, wenn es etwas Neues wegen Kim gibt.«
Sie legte den Hörer auf. Nahm ihn aber gleich darauf wieder hoch und wählte die Nummer von Superintendent Baker.
Nathan war nicht in der Gegend gewesen, als das erste Kind verschwand. Und ihr Instinkt sagte ihr, dass er Kim tatsächlich nicht verschleppt hatte. Aber es war gleichgültig, was sie fühlte, dachte, glaubte. Er war ein notorischer Lügner, ein Hochstapler, ein Erpresser. Es ging um ihr Kind. Nicht um ihren, Virginias, guten Ruf. Nicht darum, einen Mann davor zu bewahren, möglicherweise unschuldig in die Mühlen polizeilicher Ermittlungsarbeit zu geraten. Es ging einzig um Kim, und solange nur der Schatten, nur der Hauch eines Verdachts an Nathan hing, musste dem nachgegangen werden.
Mit fester Stimme verlangte sie, Superintendent Baker zu sprechen.

5
Frederic war ins Wohnzimmer gegangen, als das Telefon klingelte, und kehrte nun in die Küche zurück, wo Virginia am Tisch saß. Sie hatte ein Glas Milch vor sich - »heiße Milch mit Honig, das ist gut für die Nerven«, hatte Frederic gesagt und ihr die Milch gewärmt. Das war vor einer Stunde gewesen. Sie hatte zweimal an dem Getränk genippt, aber sofort hatte sie gemeint, ihr Magen ziehe sich zusammen. Inzwischen war die Milch längst kalt geworden, und eine Haut hatte sich auf der Oberfläche gebildet. Virginia konnte Kim hören. »Iiiiihh! Milch mit Haut!«
Sie stützte den Kopf in die Hände. Kim, Kim, Kim!
»Das war Superintendent Baker«, erklärte Frederic. »Sie verhören Nathan Moor seit Stunden. Ohne Ergebnis. Er hat sofort zugegeben, den Anruf getätigt zu haben, aber er streitet beharrlich ab, irgendetwas mit Kims Verschwinden zu tun zu haben.«
Virginia hob den Kopf. »Und? Glaubt ihm Baker?«
Frederic zuckte mit den Schultern. »Was kann man einem Mann wie ihm schon glauben?«

V
irginia nickte langsam. Vermutlich gab es nur eine einzige Wahrheit über Nathan Moor, und die hatte Livia klar und deutlich ausgesprochen: »Nathan hat immer nur vom schnellen Geld geträumt. Von morgens bis abends denkt er über fast nichts anderes nach.«
Frederic setzte sich Virginia gegenüber an den Tisch. Sein Gesicht war bleich vor Müdigkeit. »Baker sagt, wenn wir es irgendwie schaffen, sollen wir trotzdem morgen zu der Beerdigung kommen. Schließlich - vielleicht ist Moor tatsächlich unschuldigÉ«
»Er hat bestimmt nichts mit dem Tod der anderen Kinder zu tun«, sagte Virginia, »er war gar nicht in der Gegend, undÉ«
»Behauptet er jedenfalls.«
»Behauptet Livia.«
»Die wir im Grunde auch nicht besser kennen als ihn«, sagte Frederic. »Ich meine, wer sagt uns denn, dass wir da nicht einem besonders durchtriebenen Gaunerpärchen aufgesessen sind? Denen ist das Schiff abgesoffen, und während sie hin und her überlegten, wie sie am besten wieder zu Geld kommen könnten, fiel ihnen ein, es doch einmal mit dir zu versuchen. Vielleicht hat sich Moor durchaus mit dem Einverständnis seiner Gattin an dich herangemacht. Es war ja von Anfang an offensichtlich, dass du recht wohlhabend bist.«
»Das bin ich doch gar nicht. Du bist wohlhabend. Und dass du mich nicht gerade mit Geld überhäufen würdest, wenn ich mich mit einem anderen Mann einließe, muss jedem klar sein.«
»Wieso? Selbst der schlaue Nathan Moor hat unsere Vermögensverhältnisse vielleicht nicht sofort im Detail durchschaut!«
Sie sah ihren Mann an. »Das macht ihn aber noch nicht zu einem Kindermörder.«
»Auch nicht zu einem Entführer?«
Sie senkte den Blick.
Frederic neigte sich über den Tisch auf sie zu. »Was weißt du eigentlich über den Mann, mit dem du den Rest deines Lebens verbringen wolltest?«, fragte er.
Sie antwortete nicht. Alles, was sie auf diese Frage hätte erwidern können, wäre als Rechtfertigung völlig untauglich gewesen.

F
rederic wartete einen Moment, dann begriff er, dass sie nichts sagen würde. Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück.
»Warum nur?«, fragte er. »Wenn ich nur verstehen könnte, warum!«
Sie sah ihn wieder an, brauchte viel Kraft dazu. »Ist das ein Thema, das wir jetzt klären müssen?«
»Irgendwann sollten wir es tun.«
»Damals, als wir in dem Café saßen, an dem Tag, an demÉ Kim verschwand, da hast du mich auch schon nach dem Warum gefragt. Ich habe versucht, es dir zu erklären. Wahrscheinlich hast du es nicht verstanden. Vielleicht kann man es auch gar nicht verstehen.« Sie schluckte. »Ich habe mich in Nathan Moor verliebt«, sagte sie leise, »zumindest dachte ich, ich hätte mich in ihn verliebt. Was in der Wirkung zunächst einmal das Gleiche ist.«
Frederic rieb sich die Augen. Sie sahen gerötet und noch müder aus als zuvor.
»Und jetzt? Liebst du ihn nicht mehr? Oder denkst, ihn nicht mehr zu lieben?«

V
irginia schwieg eine ganze Weile. Sie starrte auf das Milchglas, das vor ihr stand, aber sie sah es nicht. Sie sah Nathan und sich. In Dunvegan auf Skye. Sah das Kaminfeuer und die Kerzen. Roch den Wein. Sah seine Augen und sein Lächeln und spürte seine Hände auf ihrem Körper. Fühlte den abgrundtiefen Schmerz des Verlustes und der Enttäuschung. Hätte viel darum gegeben, diese Stunden noch einmal erleben zu dürfen. Und wusste doch, dass sie vorbei und niemals wiederholbar waren.
»Jetzt denke ich«, sagte sie, »dass man Liebe manchmal verwechselt. Mit irgendwelchen Emotionen, nach denen man sich gerade sehnt. Nathan hat mir das Gefühl gegeben, wieder lebendig zu sein. Und ich habe lebendig mit Liebe verwechselt.«
»Sich lebendig fühlen ist viel. Wenn er dir das gegeben hat, hat er dir sehr viel gegeben.«
Sie wusste, dass das stimmte. Nathan Moor hatte ihr, trotz allem, eine Tür geöffnet, die sie allein nicht hätte aufstoßen können.
»Nathan und ich«, sagte sie, »haben keine gemeinsame Zukunft mehr. Unabhängig davon, was aus uns beiden wird. Wenn es das ist, was du wissen möchtest.«
»Das und vieles mehr«, entgegnete Frederic.
Sie schob das Glas zurück und stand auf. Sie konnte nicht länger in dieser Küche sitzen. Schon wurde ihr das Atmen wieder schwer. Wie am Morgen.
»Mir ist plötzlichÉ«, begann sie und rang nach Luft.
Frederic war sofort neben ihr. Er hielt sie fest. Sie konnte seine Stimme dicht an ihrem Ohr hören.
»Atme ganz tief. Ganz ruhig. Atme, so tief du kannst!«
Tatsächlich gelang es ihr, wieder Sauerstoff in ihre Lungen zu bringen. Das Rasen ihres Herzens beruhigte sich ein wenig. Das Bedürfnis, hinauszulaufen, den Wänden um sie herum zu entkommen, verebbte.
»Danke«, flüsterte sie.
»Deine Lippen sind ganz grau«, sagte Frederic, »und deine Pupillen sind riesig.«
Sie starrte ihn an. Wie sollte sie ihm die Bilder erklären, die sich plötzlich wie rasend durch ihren Kopf bewegt hatten? Nathan und sie; Skye; sie beide im Auto; Kim, wie sie verängstigt und frierend in ihrem Baumhaus kauerte; Grace, die glühend vor Fieber durch das verlassene Schulgebäude irrte und das Kind suchte; Tommis strahlendes Gesicht; Tommi im Krankenhaus; der zarte Körper, der zwischen Dutzenden von Schläuchen fast verschwand;Tommis Mutter; ihre erloschenen Augen.

A
uf einmal begann Virginia zu weinen. So heftig, als breche der Schmerz von Jahrzehnten hervor. Sie zitterte, klammerte sich an Frederics Schultern. Sie weinte, als könne sie niemals wieder aufhören.
Jetzt vernahm sie seine Stimme wie aus weiter Ferne. »Beruhige dich, Virginia! Beruhige dich doch!«
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 20.04.2007