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Meine Güte«, erwiderte er wütend, »nun behandle mich doch nicht wie einen Schwerverbrecher! Ich habe deiner Tochter kein Haar gekrümmt. Ich weiß nicht mal, wo sie ist. Ich habe nicht das Geringste mit ihrem Verschwinden zu tun. Auch nicht mit dem Verschwinden der anderen Kinder. Ich habe einen furchtbaren, dummen Fehler gemacht. Es tut mir leid. IchÉ bitte dich um Entschuldigung, wenn du das möchtest.«
»Und woher weiß ich, dass es stimmt, was du sagst? Vielleicht ist ja kein Wort davon wahr, dass vorgestern dein Auto nicht ansprang. Ziemlich schlau, denn hättest du wie vereinbart Kim abgeholt, hättest du sie kaum zum selben Zeitpunkt entführen können, ohne in Verdacht zu geraten. So glaubte jeder, du hättest hier in Hunstanton festgesessen. In Wahrheit bist du nach KingÕs Lynn gefahren und hast dir Kim geschnappt, bevor GraceÉ« Ihre Stimme brach, die Tränen machten es ihr unmöglich, weiterzusprechen.
Nathan schüttelte den Kopf. »Nein! Ich steh nicht auf Kinder! Ich finde die Typen komplett abartig, die das tun. Ich kann
es in meinen finstersten Träumen nicht nachvollziehen!«
»Und warum soll ich dir das glauben?«, schrie sie.
»Weil du mich kennst!«, schrie er zurück. »Weil du meine Geliebte warst! Weil du es gespürt hättest, wenn ein Kinderschänder mit dir geschlafen hätte!«

S
ie fuhr sich mit dem Unterarm über die Augen, schniefte hörbar. Nicht mehr weinen. Keinen Moment mehr. Sondern handeln.
Sie griff sich den Rekorder, nahm ihre Handtasche. »Sicher weiß die Polizei besser als ich, wie man die Wahrheit herausfindet«, sagte sie. »Dort kannst du dann auch erklären, wo du dich aufgehalten hast, als das erste Kind ermordet wurde. Auf Skye jedenfalls noch nicht.«
»Aber auch nicht hier. Was sich leicht beweisen lässt, da man ja in jedem Hafen, in dem man ankert, registriert wird. Du wirst in der gesamten Umgebung hier nicht eine Registrierung der Dandelion finden.«
»Das kann ja Superintendent Baker überprüfen. Er wird seinen Job gut machen.« Sie wollte an ihm vorbei, aber er hielt ihren Arm fest.
»Lass mich los«, sagte sie.
»Du willst jetzt zur Polizei?«
»Natürlich. Und wenn du mich nicht sofort loslässt, dann schreie ich. Deine Wirtin ist unten. Ich schreie um Hilfe.«
Er ließ sie los.
»Dann geh doch«, sagte er und trat zur Seite.
Sie lief aus dem Zimmer, ohne ihn noch ein einziges Mal anzusehen.



4
Sie hätte später nicht zu sagen gewusst, wie sie nach Ferndale zurückgekommen war. Wahrscheinlich war es ein Wunder, dass sie keinen Unfall verursacht hatte. Einige Male begann sie zu weinen und konnte vor lauter Tränen kaum etwas sehen. Als sie in die Auffahrt einbog, meinte sie, noch nie in ihrem Leben so verzweifelt und geschockt gewesen zu sein.
Daheim schloss sie sogleich die Tür hinter sich und lehnte sich schwer atmend von innen dagegen. Wieder fiel ihr die bleierne Stille des Hauses auf. Endlos schien es her, dass das fröhliche Lachen von Kim erklungen war. Es hätten Jahre sein können, dabei waren nur zwei Tage seit ihrem Verschwinden vergangen. Zwei Tage, die zu den längsten ihres Lebens wurden.
Sie ging ins Wohnzimmer, mit den müden, schleppenden Schritten einer alten Frau. Sie schaltete die Rufweiterleitung aus, starrte auf den Telefonapparat. Sie musste Superintendent Baker anrufen.

Was, wenn Jack ihr sein Auto nicht gegeben hätte? Oder gar nicht zu Hause gewesen wäre? Sie hätte Ferndale nicht verlassen können. Wahrscheinlich hätte sie dann nie herausgefunden, dass Nathan den erpresserischen Anruf getätigt hatte. Er hätte den Rekorder vernichtet, sich wahrscheinlich wirklich nicht mehr gemeldet. Sie und Frederic hätten vergeblich auf ein erneutes Lebenszeichen des Erpressers gewartet und wären schließlich zu der Erkenntnis gelangt, dass es sich in der Tat um einen Witzbold mit einem Sinn für höchst makabren Humor gehandelt hatte.
Das Misstrauen, das sie an diesem Morgen nach Hunstanton getrieben hatte, hätte sich wieder gelegt, und sie hätte mit Nathan gelebt und bis ans Ende aller Tage nicht erfahren, welche perfide Rolle er in dem größten Drama ihres Lebens gespielt hatte.

A
lles wäre anders gekommen. Ihre gesamte Zukunft.
Sie schaute auf den bunten Kassettenrekorder, den sie noch immer in der Hand hielt. Nun würde er als ein Beweismittel an Superintendent Baker gehen. Dorthin gehörte er.
Sie fragte sich, weshalb sie zögerte, Baker anzurufen.
Als sie aus der Pension in Hunstanton gestürmt war, vorbei an der Wirtin, die noch immer im Vorgarten arbeitete und ihr überrascht nachgeschaut hatte, da war sie entschlossen gewesen, direkt zur Polizei zu fahren und dort alles zu sagen, was geschehen war und was sie über Nathan Moor wusste. Seine Lügengeschichten, seine Hochstapelei, alles. Stattdessen war sie nun zu Hause in Ferndale gelandet und stand unschlüssig im Wohnzimmer herum.
Weshalb?

D
u müsstest dann auch bekennen, wie sehr du dich in dem Mann, mit dem du deinen Ehemann betrogen hast und für den du deine Familie verlassen wolltest, getäuscht hast. Das Spiel, das er mit deiner und Frederics Angst getrieben hat, ist durch nichts zu entschuldigen. Aber im Grunde hättest du dich schon von ihm trennen müssen, als du erfuhrst, wie hemmungslos er dich über seine berufliche Situation belogen hat. Was würde Baker denken? Dass du so verrückt nach diesem Typen warst, dass du ihm seinen Betrug verziehen und ihn sogar noch irgendwie vor dir schöngeredet hast. Als was stehst du dann da? Als eine mannstolle Person? Als eine Frau, die jeden Stolz verloren hat? Im besten Fall wahrscheinlich noch als hoffnungsloses Dummchen.
Ist es das? Ist es das, weshalb du zauderst? Willst du einfach dein letztes bisschen Ansehen nicht verspielen?
Sie schüttelte langsam den Kopf. Ja und nein. Eines war klar: Würde sie auch nur im Mindesten noch glauben, dass Nathan in Wahrheit doch etwas mit Kims Verschwinden zu tun hatte, wäre sie längst bei der Polizei. Dann hätte es nicht den kleinsten Moment des Überlegens gegeben.
Das aber bedeutete, dass sie es nicht glaubte. Dass etwas in ihr sehr unmissverständlich sagte, dass Nathan diesmal nicht log. Dass er Kim wirklich nicht hatte. Dass er nur versucht hatte, auf eine unsägliche Weise an hunderttausend Pfund zu kommen und damit seine ausweglose Situation zu verbessern.

O
der redete sie sich da schon wieder etwas ein? Immerhin hatte sie am Vormittag plötzlich so stark an ihm gezweifelt, dass sie ihn aufgesucht hatte, um sich über ihn und seine Rolle in der Geschichte klar zu werden.
Als das Klingeln des Telefons plötzlich die Stille durchschnitt, erschrak sie so sehr, dass ihr der Rekorder aus den Händen rutschte. Das Zittern, das sie sofort befiel, kannte sie, seit der Erpresser angerufen hatte. In der nächsten Sekunde fiel ihr ein, dass er sich nie wieder melden würde.
Vielleicht war es die Polizei. Bei diesem Gedanken fingen ihre Hände noch unkontrollierter zu zittern an, aber sie versuchte sich zu beruhigen.
Wäre es etwas Schlimmes, dann kämen sie hierher. Eine schlimme Nachricht würden sie mir nicht am Telefon überbringen.
»Ja«, meldete sie sich.
»Virginia?« Es war Livia.
Virginia atmete tief und fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn.
»Oh, Livia. Sind Sie in Deutschland?«
»Ja. Und ich wollte wissen, ob es etwas Neues wegen Kim gibt?«
Sie war wie eine gute Freundin. Zuverlässig und aufmerksam.
»Nein, Livia, leider nicht. Wir haben immer noch keine Spur von ihr.«
Am anderen Ende herrschte längeres Schweigen.
»Das ist ja schrecklich«, sagte Livia dann bedrückt. »Sie und Frederic müssen durch die Hölle gehen.«
»Das ist so, ja.« Virginias Stimme schwankte. »Es ist einfach unvorstellbar, Livia, eigentlich ist es nicht auszuhalten. Man wundert sich die ganze Zeit, dass man nicht den Verstand verliert.«
»Ich wünschte, ich könnte etwas tun«, sagte Livia, und sie klang sehr aufrichtig.
Virginia kam plötzlich ein Gedanke. »Livia, das ist vielleicht eine seltsame Frage, aber bevor Sie damals nach Skye kamen, wo haben Sie da Station gemacht? Waren Sie je in der Gegend von KingÕs Lynn?«
»Nein«, sagte Livia, »wir sind von Anfang an ziemlich weit hoch in den Norden gesegelt. Wir waren inÉ«
»Okay. Jedenfalls nicht hier?«
»Nein. Warum?«
»Das kann ich Ihnen nicht erklären. Livia, es istÉ ich werde nicht mit Nathan zusammenbleiben.«
»OhÉ«
»Ich muss noch etwas wissen. Er hat ja wohl nie richtig Geld verdient, aber lag das wirklich an seiner Lebenssituation damals? Und gab es für ihn tatsächlich jahrelang nie eine Chance, dieser Situation zu entkommen?«
Livia schwieg so lange, dass sich Virginia schon fragte, ob sie überhaupt noch am Apparat war.
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 19.04.2007