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Mit ihrer freien Hand griff Doris über den Tisch und drückte Janies Hände. »Stella hat mich gebeten, dass wir dorthin gehen. Es kann sein, dassÉ dass es derselbe Mann war. Verstehst du? Sie wissen es nicht, aber es besteht die Möglichkeit, undÉ nun, manchmal, weißt du, kommen solche Leute dann dazu, wennÉ ihre Opfer beerdigt werden. Sie schauen sich das gern an, weil sie sich dann besonders stark fühlen. UndÉ«
»Nein! Ich will nicht! Ich will da nicht hin!«
»Janie, du bist die Einzige, die ihn gesehen hat. Du würdest ihn erkennen, wenn er dort ist. Sieh mal, wahrscheinlich kommt er ja gar nicht. Und dann wirst du ihn nie wiedersehen. Aber wenn dochÉ Du willst doch auch, dass er eingesperrt wird, oder? Dass er niemandem mehr etwas antun kann!«
Janie hörte, was ihre Mutter sagte. Aber die Stimme schien sich langsam von ihr zu entfernen, so als gehe Doris von einem Zimmer zum anderen, immer weiter weg, so dass ihre Stimme leiser und leiser wurde. Und gleichzeitig erhob sich ein Rauschen in Janies Ohren, und auf einmal schwankte auch der Boden unter ihr, und der Tisch mit allem, was darauf stand, drehte sich vor ihren Augen.
»Ich will nicht«, sagte sie, aber jetzt konnte sie schon ihre eigene Stimme nicht mehr richtig hören, und vielleicht hatte sie auch gar nichts gesagt, sondern sich nur eingebildet, es getan zu haben. »Ich will nicht. Ich will nicht.«
Dann wurde es dunkel.


2
Virginia stand vor dem Spiegel im Flur und betrachtete sich. Der alte Spiegel stammte aus Frederics Familie und hatte sich wahrscheinlich schon immer an dieser Stelle befunden. Das Glas, eingefasst von einem wunderschönen, kostbaren Goldrahmen, war jedoch nicht so geschliffen, wie es sein sollte: Jeder Betrachter konnte sich nur verzerrt wahrnehmen; dünner, als er eigentlich war, und seltsam in die Länge gezogen. Früher war Virginia manchmal, wenn sie sich zu dick fühlte, vor diesen Spiegel getreten und hatte sofort optisch etliche Kilos verloren. Jetzt, an diesem sonnigen Herbstmorgen, sah sie geradezu grotesk dünn aus, und zum ersten Mal ging ihr auf, dass sie in den vergangenen Tagen, aber wohl auch schon in den Wochen zuvor, stark abgenommen haben musste. Tatsächlich schlabberten auch ihre Kleider an ihr herum, was sie zuvor gar nicht richtig wahrgenommen hatte. In dem Spiegel wirkte sie wie eine verhungerte Vogelscheuche. Hohlwangig und mit tiefen Ringen unter den Augen. Sie trug ein ausgeschnittenes T-Shirt, und die Knochen an ihrem Dekolleté stachen wie kleine Schaufeln hervor.
Wann habe ich zuletzt geschlafen?, überlegte sie.
Es schien eine Ewigkeit her zu sein.

S
ie kam nicht dazu, noch länger ihre eigene unattraktive Erscheinung zu mustern, denn plötzlich schrillte das Telefon. Sie schrak zusammen, stürzte ins Wohnzimmer und erreichte gleichzeitig mit Frederic den Apparat. Beide hatten sie den gleichen Gedanken: Vielleicht meldete sich der Erpresser ja wieder.
Es war jedoch nur Superintendent Baker. Und obwohl Virginia glaubte, ihre Nerven müssten zerreißen, wenn sich der Mann, der vielleicht ihre kleine Kim entführt hatte, nicht endlich wieder rührte, zeigten ihre zitternden Hände zugleich, wie sehr sie gerade diesen Moment fürchtete. Sie hatte Angst vor der verzerrten Stimme, von der Frederic berichtet hatte. Angst vor dem Grauen, das diese in ihr auslösen würde.
Frederic nahm das Gespräch an, schaltete jedoch den Lautsprecher ein.
»Ich habe eine große Bitte an Sie«, sagte Baker. »Falls sich bis morgen früh nichts weiter ergeben hat - könnten Sie dann wohl an der Beerdigung der kleinen Rachel Cunningham teilnehmen?«
»Rachel Cunningham?«, fragte Frederic. »Das ist das Mädchen, dasÉ«
»Das wir in Sandringham draußen gefunden haben, ja. Sie wird morgen beigesetzt. Es ist nicht völlig auszuschließen - wir haben das nicht selten erlebt -, dass sich ihr Mörder auf dem Friedhof herumtreiben wird.«
»Aber wie können wir Ihnen da nützen?«
Baker seufzte. »Es ist nur ein ganz kleiner Strohhalm. Aber vielleicht fällt Ihnen dort jemand auf, den Sie in der letzten Zeit einmal in der Nähe Ihrer Tochter gesehen oder erlebt haben.

J
emand, an den Sie sich jetzt nicht erinnern, weil die Begegnung vielleicht so flüchtig und unauffällig warÉ Aber möglicherweise, wenn Sie ihn sehenÉ«
Nun seufzte auch Frederic, tiefer als Baker zuvor und sehr verzweifelt.
Bakers Stimme klang mitfühlend. »Ich weiß, Mr. Quentin, es ist eine Zumutung. In Ihrer Situation auf die Beerdigung eines kleinen Mädchens gehen zu müssenÉ aber Sie verstehen sicher, dass wirÉ«
»Natürlich«, sagte Frederic, »wir verstehen das, und es ist ganz in unserem Interesse.«
Wie müde er aussieht, dachte Virginia.
Die beiden Männer beendeten ihr Gespräch. Frederic wandte sich zu Virginia um.
»Ich breche jetzt sofort auf«, sagte er. »Ich fahre nach London und hole das Geld.«
»Hat die Bank es schon bereitgestellt?«
»Bis heute Mittag haben sie es.« Frederic hatte am Vortag lange mit einem seiner ältesten und vertrautesten Mitarbeiter gesprochen und ihn in die Situation eingeweiht. »Ich komme dann sofort damit zurück. Es darf keine Verzögerung geben, wenn sich derÉ wenn sich dieser Mensch wieder meldet.«
»Du willst dir das Geld nicht bringen lassen?«
Er schüttelte den Kopf. »Ich vertraue mir selbst immer noch am meisten.«

S
ie nickte, fühlte sich angesprochen, obwohl er das kaum gemeint haben dürfte: Auch seiner Frau konnte er nicht mehr vertrauen.
»Fahr vorsichtig«, sagte sie. So, wie sie es tausendmal gesagt hatte, wenn er nach London aufbrach.
»Du bleibst hier?«, vergewisserte er sich. »Am Telefon?«
»Natürlich.«
»So natürlich ist das nicht. Vielleicht bist du verabredet.«
Sie konnte ihm nicht in die Augen sehen. Sie empfand diesen verletzten Ausdruck, für den sie verantwortlich war, als unerträglich.
»Ich bleibe hier«, sagte sie, »und warte auf dich. BitteÉ komm, sobald du kannst!«
Als er verschwunden war, wurde es entsetzlich still im Haus. Viel stiller als in den Stunden zuvor, obwohl Virginia und Frederic da kein Wort gesprochen hatten. Ein Haus, in dem sich ein weiterer Mensch aufhält, schweigt nicht so nachdrücklich wie eines, in dem ein Mensch allein ist.
Sie rief in Nathans Pension an, aber die Wirtin sagte, Mr. Moor sei fortgegangen.
»Ist er mit dem Auto weggefahren?«, fragte Virginia.
»Ich kontrolliere meine Gäste nicht«, versetzte die Wirtin pikiert.
»Sie können doch sehen, ob das Auto noch vor Ihrem Haus parkt!«
Die Wirtin brummte vor sich hin, bequemte sich aber, zum Fenster zu gehen und nachzuschauen.
»Das Auto ist weg«, meldete sie dann.
Warum war er nie erreichbar? Warum blieb er nie daheim?

A
ber was war schon daheim in seinem Fall? Das winzige Zimmer in einer kleinen Pension in einem fremden Land. Sollte er den ganzen Tag dort sitzen und aus dem Fenster starren? Und warten, dassÉ ja, worauf eigentlich? Darauf, dass Kim wieder auftauchte, dass er und Virginia darangehen konnten, ihre gemeinsame Zukunft zu planen. Aber wie sollte die aussehen? Nathan besaß nichts mehr. Virginia würde Unterhalt für Kim bekommen. Für sich selbst erschien ihr das mehr als fraglich, da sie ja mit einem anderen Mann zusammenleben würde. Wenn Nathan über diese Dinge nachdachte, musste er verrückt werden. Ein unlösbares Dilemma.
Gab es das? Eine wirklich ausweglose Situation? Oder war da immer ein Weg, den man nur finden musste? Dachte Nathan über diesen Weg nach? Fuhr in der Gegend herum und grübelte? Oder lief er vor genau diesem Grübeln fort, fuhr über die sonnenbeschienenen Landstraßen und versuchte, seine Misere, Virginias Misere, ihrer beider Misere zu vergessen?

S
ie lief im Haus umher, mied diesmal jedoch Kims Zimmer. Der Anblick schmerzte zu sehr. Qualvoll langsam tickten die Minuten dahin. Immer länger, immer leerer, immer zäher schien der Tag zu werden, als laufe die Uhr rückwärts statt vorwärts.
Ihre Unruhe wuchs. Das Gefühl, eingesperrt zu sein, nach Luft zu ringen, wurde stärker. Sie lief in die Küche, füllte sich ein Glas mit Wasser, starrte darauf und kippte es dann weg, weil es sie beim bloßen Gedanken, etwas zu sich zu nehmen, schon würgte. Sie ging ins Wohnzimmer, verließ es wieder, wanderte die Treppe hinauf, betrat das Bad, betrachtete wieder einmal, wie schon am Morgen im Flur, die Fremde im Spiegel. Ihre Hände waren eiskalt. Irgendjemand atmete laut, und sie brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass sie selbst es war.

I
hr fiel ein, dass Superintendent Baker gleich an jenem ersten Morgen - und der war erst gestern gewesen, schien aber Wochen her zu sein - gefragt hatte, ob sie und Frederic psychologische Hilfe in Anspruch nehmen wollten. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 16.04.2007