11.04.2007
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Janie verstand absolut nicht, was ihre Mutter meinte. Aber wenigstens schien sie nicht mehr sauer zu sein. Und das war weit mehr, als Janie noch eine halbe Stunde zuvor zu hoffen gewagt hätte.
5
»Sie kommt natürlich zurück«, hatte sie am Ende zu sich selbst gesagt, sich gründlich die Nase geputzt und aufgehört zu weinen.
Ohne dass sie sich das zuvor überlegt hatte, war sie, einem inneren Bedürfnis folgend, zu Kims Schule gefahren, hatte das Auto in einiger Entfernung geparkt und war zu dem Gebäude hinübergelaufen, dessen Hof und Grünanlagen gerade von Hunderten von Schülern bevölkert wurden, die ihre Mittagspause genossen. Sie spielten Nachlaufen, hüpften durch kreidegemalte Kästchen, gingen in kleinen Trupps spazieren oder saßen in der Sonne. Rufen, Lachen und Schreien erfüllten die Luft.
Bis zum gestrigen Tag war Kim eine von ihnen gewesen.
Kim musste wieder eine von ihnen werden. Alles andere war nicht vorstellbar.
E
Dort hatte Kim gestanden. Vor dem großen Eisentor, das so mächtig, so gewaltig wirken musste hinter einem kleinen, siebenjährigen Mädchen. Es hatte geregnet, nicht einfach nur ein wenig genieselt, sondern das Wasser war in Strömen zur Erde gerauscht. Trotzdem hatte sich Kim offensichtlich nirgendwo untergestellt. Sie musste sehr sicher gewesen sein, dass jeden Moment jemand kommen und sie abholen würde. So sicher, dass es ihr nicht mehr lohnend erschienen war, zurück ins Schulgebäude zu laufen und Schutz vor dem Schauer zu suchen.
Sie war so vertrauensvoll.
Zu wem ist sie eingestiegen?
Virginia hatte auf dem Gehweg gestanden und die Stelle angestarrt, an der ihr Kind gewartet haben musste, und sie hatte versucht, etwas von dem zu erfassen, was in Kim vorgegangen war.
B
Sie hatte an Skye gedacht. An ihre wilde, rücksichtslose Flucht. Die Nächte mit Nathan. Ihre Entscheidung, ihr weiteres Leben mit ihm zu verbringen. Bei all dem war sie nicht gerade sanft mit den Gefühlen ihrer Umwelt umgegangen. Nicht mit Frederics Gefühlen, aber auch nicht mit denen von Kim. Frederic hatte schließlich begriffen, was geschah. Kim hatte es nur gespürt, und das mochte noch schlimmer, noch bedrohlicher gewesen sein. Sie war einmal weggelaufen und nun womöglich ein zweites Mal. Sie schrie um Hilfe. Ihre Mutter war dabei, das ganze vertraute Leben der Familie aus den Gleisen zu kippen. Ein Schock für ein Kind.
Virginia hatte sich abgewandt und war in den kleinen Park gegangen, der sich gleich neben dem Schulgelände befand. Ein paar Spaziergänger waren unterwegs, aber niemand achtete auf sie. Als die Tränen zu rinnen begannen, setzte sie ihre Sonnenbrille auf. Sie entdeckte eine Bank, die sich in einer Nische aus hohen Kirschlorbeerwänden befand; dort ließ sie sich nieder und weinte und weinte, aus Angst und aus Schuld, und als sie fertig war, wusste sie, dass sie trotz allem wieder genauso handeln würde, denn nach einem neuen Leben - dem Leben mit Nathan? - hatte sie so lange schon gesucht.
A
Sie lief noch einmal zur Schule zurück, die jetzt sehr still in der Sonne lag. Der Nachmittagsunterricht hatte begonnen. Aus einigen der geöffneten Fenster konnte man Stimmen hören, von irgendwoher wehten Klaviertöne herüber.
Aber keine Antwort. Auch an diesem Ort fand Virginia keine Antwort über den Verbleib ihres Kindes. Keine Ahnung, kein plötzliches Gefühl, kein erwachender Instinkt, der ihr einen Hinweis gegeben hätte.
Und doch meinte sie zu spüren, dass Kim nach ihr rief. Dass sie lebte und nach ihrer Mutter verlangte.
Als sie ihren Wagen daheim in Ferndale vor dem Haus zum Stehen brachte, wurde die Haustür aufgerissen, und Frederic kam heraus. Er schien auf sie gewartet zu haben. Wahrscheinlich hatte er sich Sorgen gemacht. Sie war fast zweieinhalb Stunden fort gewesen.
Sie wappnete sich innerlich gegen seine Vorwürfe und stieg aus dem Auto.
»Frederic«, sagte sie.
Zu ihrer Überraschung kam keine Attacke wegen ihres Verschwindens. Frederic war leichenblass im Gesicht, seine Augen plötzlich ganz dunkel, fast schwarz.
»Kim«, sagte er.
D
»Was ist? Was ist mit ihr?« Virginia brauchte eine Sekunde, um zu begreifen, dass die schrille Stimme, die diese Fragen schrie, ihre eigene war.
»Da hat jemand angerufen«, sagte Frederic, »und gesagt, dass er Lösegeld für sie haben will.«
»Lösegeld?«
»Sie ist entführt worden«, sagte Frederic.
6
»Ein Trittbrettfahrer hingegenÉ«, sagte Frederic.
»Ein Trittbrettfahrer spielt das Spiel vielleicht noch eine ganze Weile weiter«, erklärte Baker, »möglicherweise bis hin zu einer Lösegeldübergabe. Was nicht heißt, dass er das Kind tatsächlich in seiner Gewalt hat. Er macht sich nur die Situation zunutze, um an Geld zu kommen. Er hört im Radio, dass ein kleines Mädchen vermisst wird, undÉ«
»Der Name Quentin ist nicht gerade selten«, sagte Frederic, »weshalb würde er dann gerade bei uns anrufen?«
Baker zuckte mit den Schultern. »Sie genießen eine gewisse Prominenz, Mr. Quentin. Als Bankier und noch mehr, seit Sie in der Politik tätig sind. Der Typ versucht es einfach, schon deshalb, weil man bei Ihnen davon ausgehen kann, dass Sie in der Lage wären, eine hohe Summe aufzubringen. Und Bingo! Er hat Glück. Es ist tatsächlich die Tochter des Bankiers und Politikers Frederic Quentin, die verschwunden ist. Das dürfte ihm anhand Ihrer Reaktion sofort klar geworden sein. Andernfalls hätte er einfach aufgelegt. Was hatte er zu verlieren?«
»Aber Sie können nicht ausschließen, dass Kim tatsächlich entführt wurde«, sagte Virginia. Seit ihrer Rückkehr aus der Stadt saß sie in einem Lehnstuhl im Wohnzimmer und konnte nicht mehr aufstehen. Frederic hatte sie zu diesem Sessel geführt, ihr geholfen, sich zu setzen. Sie hatte sich unbeholfen, vorsichtig bewegt wie eine alte Frau. Noch nie zuvor im Leben war sie sich so hinfällig und schwach vorgekommen, so als sei plötzlich alle Kraft, alle Vitalität und Jugend, von ihr gewichen.
N
Zum ersten Mal hatte Virginia nun erfahren, was der Anrufer gesagt hatte. Vorher war es ihr gar nicht in den Sinn gekommen, Frederic danach zu fragen.
»Es war ein Mann«, erklärte Frederic, »aber mit einer völlig verzerrten Stimme. Sie erinnerte michÉ«
»Ja?«, hatte Baker sofort eingehakt.
Frederic schüttelte den Kopf. »Sie erinnerte mich leider nicht an jemanden, den ich kenne, nein. Ich wollte nur sagen: Die Art, wie diese Stimme verzerrt wurde, erinnerte mich an ein Spielzeug meiner Tochter.
Artikel vom 11.04.2007