06.04.2007
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Getrieben von Angst und Hilflosigkeit, lief sie wieder hinunter und wählte die Nummer von der Pension, in der Nathan abgestiegen war. Eine schlechtgelaunte Frau meldete sich und erklärte, Mr. Moor sei zu einem Strandspaziergang aufgebrochen. Sie wisse nicht, wann er zurückkommen werde.
Warum rief er nicht an? Erkundigte sich nicht nach Kim?
Fragte nicht, wie es ihr, Virginia, ging? Konnte er sich nicht
vorstellen, wie elend sie sich fühlte?
Kurz nach ein Uhr am Mittag tauchte Frederic wieder auf.
»Ihr habt nichts gefunden«, sagte Virginia. Es war keine Frage, sondern eine Feststellung.
»Nein.« Frederic fuhr sich mit beiden Händen über das Gesicht. Er war sehr blass, seine Augen vor Müdigkeit gerötet. »Nichts. Wir waren noch einmal am Baumhaus. An den Brombeerhecken, unter denen sie die Höhlen gebaut hat. Wir sind einen Teil des Schulwegs abgelaufen. Aber nirgends war eine Spur zu finden.«
Sie streckte die Hand aus und strich ihm kurz über den Arm. »Leg dich ein bisschen hin. Du siehst entsetzlich erschöpft aus.«
»Ich glaube nicht, dass ich jetzt Ruhe finde«, meinte Frederic, aber als Virginia ein paar Augenblicke später aus der Küche, wo sie für ihn ein Glas Wasser geholt hatte, ins Wohnzimmer zurückkehrte, fand sie ihn schlafend in seinem Sessel am Fenster vor.
S
Nathan klang recht munter.
»Guten Morgen, Darling«, sagte er, unbekümmert darum, dass es bereits nach ein Uhr war. »Ich war lange am Meer. Es ist herrliches Wetter heute, blauer Himmel und Sonne - falls du das durch deine dichten Bäume hindurch überhaupt schon bemerkt hast?«
Sie fand seinen Ton völlig unangemessen.
»Mein Kind ist verschwunden. Mir war bislang wirklich nicht danach zumute, über das Wetter nachzudenken.«
»Sie ist immer noch nicht wieder aufgetaucht?«
»Nein. Was du wüsstest, wenn du mich irgendwann im Lauf des Vormittages einmal angerufen und dich nach ihr erkundigt hättest!«
Er seufzte. »Entschuldige. Ich dachte, sie ist sicher wieder da. Es ist schwierig für mich, bei dir anzurufen. Ich weiß doch nicht, ob dein Mann nicht gerade neben dir sitzt. Das fühlt sich für mich auch nicht gerade gut an.«
»Das kann ich verstehen, ja.«
»Ich habe eine Idee«, meinte er. »Du kommst hierher zu mir, wir laufen ein Stück am Meer entlang, und du versuchst ein bisschen ruhiger zu werden. Wie wäre das?«
»Ich möchte nicht von hier fort.«
»Du kannst doch im Moment gar nichts machen.«
»Ich will trotzdem hier sein. Vielleicht taucht Kim plötzlich auf undÉ«
Er seufzte. »Ich würde ja zu dir kommen. Aber ich habe wenig Lust, Frederic zu begegnen, und außerdem muss ich mit dem Benzin haushalten. Ich denke wirklich, du solltestÉ«
Sie hatte sich danach gesehnt, von ihm getröstet und gestützt zu werden, aber auf einmal war dieser Wunsch wie weggeblasen. Es war nicht die Zeit, sich trösten zu lassen. Es war die Zeit, nichts unversucht zu lassen, um Kim zu finden.
»Nein«, unterbrach sie ihn, und weil sie selbst merkte, wie schroff sie geklungen hatte, fügte sie besänftigend hinzu: »Tut mir leid. Ich weiß, du meinst es gut.«
Er wirkte ein wenig beleidigt. »Ich kann dich nicht zwingen. Wenn du es dir anders überlegstÉ du hast ja meine Adresse.« Damit legte er den Hörer auf.
Sie schaltete ihr Handy aus, betrachtete das Display, das ein Foto von Kim zeigte - Kim, die ihre Wange in das weiche Fell ihres Teddybären drückte.
»Wo bist du nur?«, flüsterte sie. »Mein Liebstes, wo bist du nur?«
In einem Punkt hatte Nathan Recht gehabt: Sie konnte hier im Haus im Moment nicht viel unternehmen, und es tat ihren Nerven nicht gut, in den Räumen umherzuwandern und sich von albtraumhaften Bildern bedrängen zu lassen.
Sie schrieb einen Zettel für den schlafenden Frederic, legte ihn auf den Küchentisch: Ich gehe spazieren. Muss einfach raus, sonst ersticke ich. Virginia.
Fünf Minuten später saß sie im Auto und fuhr durch das Parktor hinaus, ließ die dichten, dunklen Bäume hinter sich. Das weite, grüne Land öffnete sich vor ihr.
Es stimmte, was Nathan gesagt hatte: Der Himmel war blau, und die Sonne schien.
4
O
Es war auf jeden Fall einen Versuch wert.
U
Sie würde Ärger bekommen, gar keine Frage. Es war erstaunlich, dass sich wegen des Schwänzens vorgestern noch nichts getan hatte. Sicher würden sie Mum einen Brief schicken. Diesen abzufangen dürfte nicht allzu schwer sein, denn Janie war ja immer zuerst daheim und nahm die Post mit hinauf. Ihr schwante nur, dass sich die Schule auf die Dauer nicht damit zufrieden geben würde, Benachrichtigungen zu versenden, die immer ohne Antwort blieben. Aber bis der Krach richtig losging, hatte sie vielleicht den netten Mann schon wiedergetroffen, und wenn sie Mummie dann erklärte, worum es gegangen war - und dass es sich niemals wiederholen würde -, wäre sicher bald alles im Lot.
Hoffentlich.
S
Und woher wusste sie überhaupt, dass der Fremde nicht auch die Uhrzeit seiner Besuche im Schreibwarenladen geändert hatte? Vielleicht kam er morgens um neun hierher. Eigentlich müsste sie von morgens bis abends auf ihrem Beobachtungsposten Wache halten. Also morgens direkt von daheim hierhergehen, sich überhaupt nicht in der Schule blicken lassenÉ
Sie zuckte zusammen, als sich plötzlich eine Hand auf ihre Schulter legte. Sie hatte niemanden kommen gehört. Als sie sich zaghaft umwandte, blickte sie in das strenge Gesicht der Dame aus dem Maklerbüro. Heute trug sie ein graues Kostüm und sah genauso gepflegt und adrett aus wie schon am Montag.
»Du schon wieder«, sagte sie.
Janie lächelte hilflos.
»Weißt du, langsam glaube ich, dass mit dir irgendetwas nicht in Ordnung ist«, sagte die Dame, »und ich finde, ich sollte jetzt wirklich deine Mutter anrufen.«
»Es ist alles okay«, beteuerte Janie hastig, »ich wollte sowieso gerade weitergehen undÉ«
S
»Du müsstest doch um diese Zeit in der Schule sein, stimmtÕs? Und außerdem finde ich es merkwürdig, dass du dich immer gerade an dieser Ecke herumtreibst. Hier gibt es doch überhaupt nichts, was für dich interessant sein könnte!«
Artikel vom 06.04.2007