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Lass sie zurückkehren, lieber Gott! Lass sie bald wieder zurückkehren und lass sie wieder glücklich werden!
Getrieben von Angst und Hilflosigkeit, lief sie wieder hinunter und wählte die Nummer von der Pension, in der Nathan abgestiegen war. Eine schlechtgelaunte Frau meldete sich und erklärte, Mr. Moor sei zu einem Strandspaziergang aufgebrochen. Sie wisse nicht, wann er zurückkommen werde.
Warum rief er nicht an? Erkundigte sich nicht nach Kim?
Fragte nicht, wie es ihr, Virginia, ging? Konnte er sich nicht
vorstellen, wie elend sie sich fühlte?
Kurz nach ein Uhr am Mittag tauchte Frederic wieder auf.
»Ihr habt nichts gefunden«, sagte Virginia. Es war keine Frage, sondern eine Feststellung.
»Nein.« Frederic fuhr sich mit beiden Händen über das Gesicht. Er war sehr blass, seine Augen vor Müdigkeit gerötet. »Nichts. Wir waren noch einmal am Baumhaus. An den Brombeerhecken, unter denen sie die Höhlen gebaut hat. Wir sind einen Teil des Schulwegs abgelaufen. Aber nirgends war eine Spur zu finden.«
Sie streckte die Hand aus und strich ihm kurz über den Arm. »Leg dich ein bisschen hin. Du siehst entsetzlich erschöpft aus.«
»Ich glaube nicht, dass ich jetzt Ruhe finde«, meinte Frederic, aber als Virginia ein paar Augenblicke später aus der Küche, wo sie für ihn ein Glas Wasser geholt hatte, ins Wohnzimmer zurückkehrte, fand sie ihn schlafend in seinem Sessel am Fenster vor.

S
ie stand gerade im Schlafzimmer vor dem Kleiderschrank, um sich etwas Wärmeres zum Anziehen zu suchen - sie fror an diesem Tag ständig, obwohl es eigentlich nicht kalt war -, als ihr Handy klingelte. Sie vermutete sofort, dass es Nathan war, der anrief, und war froh, dass sie sich im ersten Stock und weit weg von Frederic befand.
Nathan klang recht munter.
»Guten Morgen, Darling«, sagte er, unbekümmert darum, dass es bereits nach ein Uhr war. »Ich war lange am Meer. Es ist herrliches Wetter heute, blauer Himmel und Sonne - falls du das durch deine dichten Bäume hindurch überhaupt schon bemerkt hast?«
Sie fand seinen Ton völlig unangemessen.
»Mein Kind ist verschwunden. Mir war bislang wirklich nicht danach zumute, über das Wetter nachzudenken.«
»Sie ist immer noch nicht wieder aufgetaucht?«
»Nein. Was du wüsstest, wenn du mich irgendwann im Lauf des Vormittages einmal angerufen und dich nach ihr erkundigt hättest!«
Er seufzte. »Entschuldige. Ich dachte, sie ist sicher wieder da. Es ist schwierig für mich, bei dir anzurufen. Ich weiß doch nicht, ob dein Mann nicht gerade neben dir sitzt. Das fühlt sich für mich auch nicht gerade gut an.«
»Das kann ich verstehen, ja.«
»Ich habe eine Idee«, meinte er. »Du kommst hierher zu mir, wir laufen ein Stück am Meer entlang, und du versuchst ein bisschen ruhiger zu werden. Wie wäre das?«
»Ich möchte nicht von hier fort.«
»Du kannst doch im Moment gar nichts machen.«
»Ich will trotzdem hier sein. Vielleicht taucht Kim plötzlich auf undÉ«
Er seufzte. »Ich würde ja zu dir kommen. Aber ich habe wenig Lust, Frederic zu begegnen, und außerdem muss ich mit dem Benzin haushalten. Ich denke wirklich, du solltestÉ«
Sie hatte sich danach gesehnt, von ihm getröstet und gestützt zu werden, aber auf einmal war dieser Wunsch wie weggeblasen. Es war nicht die Zeit, sich trösten zu lassen. Es war die Zeit, nichts unversucht zu lassen, um Kim zu finden.
»Nein«, unterbrach sie ihn, und weil sie selbst merkte, wie schroff sie geklungen hatte, fügte sie besänftigend hinzu: »Tut mir leid. Ich weiß, du meinst es gut.«
Er wirkte ein wenig beleidigt. »Ich kann dich nicht zwingen. Wenn du es dir anders überlegstÉ du hast ja meine Adresse.« Damit legte er den Hörer auf.
Sie schaltete ihr Handy aus, betrachtete das Display, das ein Foto von Kim zeigte - Kim, die ihre Wange in das weiche Fell ihres Teddybären drückte.
»Wo bist du nur?«, flüsterte sie. »Mein Liebstes, wo bist du nur?«
In einem Punkt hatte Nathan Recht gehabt: Sie konnte hier im Haus im Moment nicht viel unternehmen, und es tat ihren Nerven nicht gut, in den Räumen umherzuwandern und sich von albtraumhaften Bildern bedrängen zu lassen.
Sie schrieb einen Zettel für den schlafenden Frederic, legte ihn auf den Küchentisch: Ich gehe spazieren. Muss einfach raus, sonst ersticke ich. Virginia.
Fünf Minuten später saß sie im Auto und fuhr durch das Parktor hinaus, ließ die dichten, dunklen Bäume hinter sich. Das weite, grüne Land öffnete sich vor ihr.
Es stimmte, was Nathan gesagt hatte: Der Himmel war blau, und die Sonne schien.

4
O
bwohl es Mittwoch war und daher nicht der Vereinbarung entsprach, stand Janie um halb zwei vor dem Maklerbüro gegenüber dem Schreibwarengeschäft und behielt wieder einmal mit aller Konzentration die Eingangstür im Auge. Sie hatte die halbe Nacht wach gelegen und über ihre Geburtstagsparty nachgedacht, und irgendwann war ihr der Gedanke gekommen, dass sich der fremde Mann, der schließlich so überaus nett zu ihr gewesen war, vielleicht gar nicht über sie geärgert hatte, sondern dass er nur aus irgendeinem Grund seine Gewohnheiten verändert hatte. Menschen taten das ständig, und anstatt jeden Montag zu dem Schreibwarengeschäft zu kommen, tat er es nun womöglich an jedem Mittwoch oder Donnerstag. Da er von Janie nur den Vornamen und keine Adresse kannte, konnte er sie davon natürlich nicht unterrichten.
Es war auf jeden Fall einen Versuch wert.

U
nglücklicherweise musste sie allerdings dafür wieder die Schule schwänzen. Diesmal nicht den Sportunterricht. Von ein bis zwei Uhr aßen sie zu Mittag, und sie hoffte, es werde nicht allzu sehr auffallen, dass sie daran nicht teilnahm. Von zwei bis vier Uhr hatten sie Zeichnen. Die Lehrerin würde natürlich merken, dass jemand fehlte. Sie würde fragen, und die anderen Kinder würden sich erinnern, dass Janie den Vormittag über da gewesen war. Sicher dachten alle, ihr wäre schlecht geworden. Neulich war auch ein Kind mittags nach Hause gegangen, weil ihm schlecht war. Allerdings hatte es sich abgemeldet. So war es vorgeschrieben. Man durfte nicht einfach abhauen.
Sie würde Ärger bekommen, gar keine Frage. Es war erstaunlich, dass sich wegen des Schwänzens vorgestern noch nichts getan hatte. Sicher würden sie Mum einen Brief schicken. Diesen abzufangen dürfte nicht allzu schwer sein, denn Janie war ja immer zuerst daheim und nahm die Post mit hinauf. Ihr schwante nur, dass sich die Schule auf die Dauer nicht damit zufrieden geben würde, Benachrichtigungen zu versenden, die immer ohne Antwort blieben. Aber bis der Krach richtig losging, hatte sie vielleicht den netten Mann schon wiedergetroffen, und wenn sie Mummie dann erklärte, worum es gegangen war - und dass es sich niemals wiederholen würde -, wäre sicher bald alles im Lot.
Hoffentlich.

S
ie blickte auf ihre Uhr. Zehn Minuten nach zwei. Niemand hatte das Geschäft betreten, niemand war herausgekommen. Wenn er nun wieder nicht kamÉ Dann müsste sie morgen erneut ihren Beobachtungsposten einnehmen. Welche Fächer versäumte sie? Musik, soweit sie wusste. Mist. Miss Hart, die den Unterricht gab, war streng und immer etwas hysterisch. Sie regte sich über alles auf, ging sofort auf die Barrikaden, wenn ein Schüler nur flüsterte oder im falschen Moment mit einem Papier raschelte. Janie seufzte. Miss Hart würde einen ziemlichen Zirkus veranstalten, das stand fest.
Und woher wusste sie überhaupt, dass der Fremde nicht auch die Uhrzeit seiner Besuche im Schreibwarenladen geändert hatte? Vielleicht kam er morgens um neun hierher. Eigentlich müsste sie von morgens bis abends auf ihrem Beobachtungsposten Wache halten. Also morgens direkt von daheim hierhergehen, sich überhaupt nicht in der Schule blicken lassenÉ
Sie zuckte zusammen, als sich plötzlich eine Hand auf ihre Schulter legte. Sie hatte niemanden kommen gehört. Als sie sich zaghaft umwandte, blickte sie in das strenge Gesicht der Dame aus dem Maklerbüro. Heute trug sie ein graues Kostüm und sah genauso gepflegt und adrett aus wie schon am Montag.
»Du schon wieder«, sagte sie.
Janie lächelte hilflos.
»Weißt du, langsam glaube ich, dass mit dir irgendetwas nicht in Ordnung ist«, sagte die Dame, »und ich finde, ich sollte jetzt wirklich deine Mutter anrufen.«
»Es ist alles okay«, beteuerte Janie hastig, »ich wollte sowieso gerade weitergehen undÉ«

S
ie machte einen Schritt zur Seite, aber die Hand der Dame griff erneut zu. Diesmal an Janies Oberarm. Ziemlich fest. Es war ein Griff, der sich nicht so leicht abschütteln ließ.
»Du müsstest doch um diese Zeit in der Schule sein, stimmtÕs? Und außerdem finde ich es merkwürdig, dass du dich immer gerade an dieser Ecke herumtreibst. Hier gibt es doch überhaupt nichts, was für dich interessant sein könnte!« (wird fortgesetzt)

Artikel vom 06.04.2007