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Er hat sich nicht an sie herangemacht.«
»Nein, er war diesmal besonders clever. Er schläft mit ihrer Mutter. Auch keine schlechte Strategie.«
»Du bist abartig!«, schrie Virginia. Sie rannte die Treppe hinauf, lief in ihr Schlafzimmer und knallte die Tür hinter sich zu. Neben ihrem Bett sank sie auf die Knie. Verschwommen sah sie hinter Tränenschleiern das Gesicht ihrer Tochter im silbernen Bilderrahmen auf ihrem Nachttisch. Dieses geliebte, süße Gesicht. Sie ließ den Kopf auf die Bettdecke sinken und wurde überschwemmt von ihren Tränen.
Und einem namenlosen, unendlichen Schmerz.


3
Gegen Mittag erschienen Jack und Grace; Grace war völlig verweint und sah noch immer aus, als habe sie Fieber. Sie brach sofort wieder in Tränen aus, als sie Virginia gegenüberstand.
»Ich kann es mir nicht verzeihen«, schluchzte sie, »ich kann mir einfach nicht verzeihen, dass ich zu spät zur Schule gekommen bin.«
»Hören Sie auf, sich Vorwürfe zu machen, Grace«, beschwichtigte sie Frederic, noch ehe Virginia antworten konnte, »der Fehler liegt bei uns. Ganz gewiss nicht bei Ihnen.«
Obwohl das Verwalterpaar alles mitbekam, konnte Virginia nicht an sich halten. »Der Fehler liegt bei mir«, sagte sie heftig, »nicht bei uns! Das ist es doch, was du in Wahrheit denkst, Frederic, also solltest du es auch sagen.«
»Bei uns«, wiederholte er, »denn wie die Dinge nun einmal lagen, hätte ich hier sein müssen und nicht in London sein dürfen.«
Wie die Dinge nun einmal lagenÉ
Virginia wusste genau, was er damit sagen wollte: Da meine Frau gerade von ihren Hormonen überwältigt wurde und als Mutter komplett ausfiel, hätte ich da sein und mich um das Kind kümmern müssen.
Sie wäre ihm ins Gesicht gesprungen, hätte sie sich nicht gescheut, Grace und Jack ein unvergessliches Schauspiel zu bieten.
Jack, der selten durch allzu große Sensibilität auffiel, schien die Hochspannung zu bemerken, die in der Luft lag.
»Äh, weshalb ich hier bin«, sagte er rasch, »ich dachte, wir könnten noch einmal die Umgebung absuchen, Sir. Ich ver
mute, die Polizei tut das auchɫ
»Ja«, sagte Frederic.
»Éaber überall können die nicht sein. Ich meineÉ es ist so unerträglich, nur herumzusitzenÉ«
»Da haben Sie Recht«, sagte Frederic, »wir gehen gleich los. Virginia, du bleibst beim Telefon?«
»Ich gehe nicht weg.«
»Kann ich irgendetwas tun, Mrs. Quentin?«, fragte Grace und putzte sich die Nase. Sie sah so krank und elend aus, dass sich Virginia trotz der furchtbaren Angst um Kim nun auch um sie zu sorgen begann.
»Grace, Sie sollten zum Arzt gehen. Oder einen Arzt kommen lassen. Sich auf jeden Fall ins Bett legen. Es hat keinen Sinn, dass Sie sich jetzt eine Lungenentzündung holen. Damit ist niemandem gedient.«
»Aber ich halte es nicht ausÉ« Grace fing schon wieder an zu weinen und kramte nach einem neuen Taschentuch.

N
ach langem Hin und Her gelang es Virginia, Grace zu überreden, nach Hause zu gehen und sich ins Bett zu legen, und schließlich waren auch die beiden Männer verschwunden, Frederic sichtlich erleichtert, dass er etwas zu tun bekam und dass er sich nicht länger mit Virginia unter einem Dach aufhalten musste. Und auch sie war froh, dass er weg war, empfand sie ihn doch als einen einzigen stummen Vorwurf.
Als das Schrillen des Telefons die Stille zerriss, schrak sie so heftig zusammen, als wäre ein Pistolenschuss gefallen.
Die Polizei. Vielleicht war es die Polizei. Vielleicht hatten sie Kim gefunden!
Ihr Herz raste, als sie den Hörer abnahm.
»Ja?«, fragte sie atemlos.
Es verging ein Moment, dann sagte eine leise, gepresst klingende Stimme: »Hier ist Livia Moor.«
»Oh«, sagte Virginia nur.
»IchÉ ich rufe aus London an. Ich bin hier in einem Hotel. Man hat mir in der Botschaft mit Geld ausgeholfen. Heute Abend fliege ich nach Deuschland.«
Virginia hatte sich noch immer nicht von ihrer Verlegenheit erholt. Sie liebte den Mann dieser Frau. Sie würde mit ihm zusammenbleiben. Am liebsten hätte sie einfach aufgelegt.
»Wie geht es Ihnen?«, fragte sie unbeholfen und fand sich selbst idiotisch.
»Nicht besonders gut«, antwortete Livia mit einer für sie ungewöhnlichen Direktheit, »aber wenigstens habe ich erst einmal eine Bleibe. Eine Freundin meiner verstorbenen Mutter nimmt mich bei sich auf. So lange, bis ichÉ nun ja, ich muss Arbeit finden. Ich hoffe, dass mir das gelingt.«
»Ich wünsche es Ihnen so sehr.«
»Danke. Ich rufe an, weil ichÉ ich brauchte Geld für meine Fahrt nach London. Ich habe es vonÉ meinem Mann genommen, aber ich weiß, dass es eigentlich Ihr Geld ist. Ich möchte Ihnen nur sagen, dass ich es Ihnen zurückzahlen werde. Sobald ich Arbeit habe, sobald ich ein bisschen was zurücklegen kann, schicke ich IhnenÉ«
»Das brauchen Sie nicht. Wirklich nicht.«
Livia schwieg wieder einen Moment. Es klang nicht hämisch, als sie dann sagte: »Sie sollten das Geld nicht ablehnen, Virginia. Wenn Sie in Zukunft mit meinem Mann zusammenleben, werden Sie es brauchen.«

N
un schwieg Virginia eine Weile. Ihre Hand hielt den Telefonhörer so fest umklammert, dass ihre Fingerknöchel weiß hervortraten. Endlich gelang es ihr zu antworten: »Es tut mir leid, Livia. Ich weiß, dass Nathan und ichÉ dass wir zwei Menschen sehr verletzen. Sie und Frederic. IchÉ wünschteÉ« Sie sprach nicht weiter. Was sollte sie auch sagen? Ich wünschte, das alles wäre nicht geschehen? Das wäre gelogen gewesen.
Ich wünschte, wir müssten niemandem dabei wehtun.
Das klang lächerlich. Zumindest wohl in Livias Ohren. Also ließ sie den begonnenen Satz einfach stehen.
»Wissen Sie«, sagte Livia, »nach all den Jahren mit Nathan empfinde ich fast auch ein wenig Erleichterung. Ich bin sehr traurig, und ich weiß nicht, wie es weitergehen soll, aber in den letzten Tagen habe ich begriffen, dass es auch soÉ ich meine, auch ohne Sie nicht einfach weitergegangen wäre. Und nicht nur, weil das Schiff untergegangen ist. Wir waren vorher schon am Ende. Er klammerte sich an dem Gedanken dieser Weltumsegelung fest, und ich redete mir ein, dass wir beide glücklich werden würden, wenn er nur glücklich wäreÉ Aber so funktioniert es eben nicht. Ich habe dieses Schiff gehasst. Ich habe die Häfen gehasst. Die Jobs, die ich mir suchen musste. Ich bin ein Mensch, der ein festes Zuhause braucht. Ich will Blumen pflanzen und über den Gartenzaun hinweg mit meinen Nachbarn reden und in meiner eigenen Waschmaschine waschen und morgens beim Bäcker Brötchen holen und mit den Leuten plaudern, die ich dort treffeÉ Ich will nicht heute hier und morgen da wohnen und nie jemanden näher kennen lernen, weil ich nie lange genug an einem Ort bin. Ich willÉ ich will Kinder, Virginia. Ich sehne mich so sehr nach Kindern. Und sie sollen in Ruhe und Sicherheit aufwachsen.«
Kinder.
»Kim ist verschwunden«, sagte Virginia.
»Schon wieder?«
»Nach der Schule. Gestern. Aber wir haben sie bis jetzt nicht gefunden.«
»Das mussÉ schrecklich für Sie sein.«

V
irginia merkte, wie ihr angesichts des echten Mitgefühls in Livias Stimme die Tränen kamen. Verzweifelt kämpfte sie dagegen an.
»Ja«, sagte sie, »es ist ganz furchtbar. Die Polizei sucht mit Hundestaffeln nach ihr. Frederic und unser Verwalter sind auch gerade wieder losgezogen. Ich frage mich, wo sie die ganze NachtÉ« Ihre Stimme brach, sie verstummte. Die Bilder, die vor ihrem inneren Auge aufstiegen, waren zu grausam.
»Mein Gott, Virginia!«, sagte Livia, und dann schwiegen sie beide, aber Virginia spürte aus Livias Schweigen größte Anteilnahme, und traurig dachte sie, dass diese junge Frau eine Freundin für sie hätte werden können - wäre nicht alles ganz anders gekommen.
»Ich gebe Ihnen die Telefonnummer meiner Bekannten in Deutschland«, sagte Livia schließlich, »dort werde ich auf jeden Fall in der nächsten Zeit erreichbar sein. Es wäre nett, wenn Sie mich anrufen könnten, sobald Kim wieder bei Ihnen ist. Ich möchte es gern wissen.«
»Natürlich. Das mache ich, Livia.« Virginia schrieb die Telefonnummer auf.
»Noch etwasÉ« Livia zögerte. »Sie könnten die Nummer auch an meinen Mann weitergeben. Vielleicht möchte er Kontakt zu mir aufnehmen. Es wird sicher manches zu regeln sein.«
»In Ordnung«, sagte Virginia.

S
ie verabschiedeten sich voneinander. Virginia legte den Hörer auf, lief hinauf in das Zimmer ihrer Tochter. Nervös rückte sie die Stofftiere zurecht, die auf der Fensterbank saßen, zupfte an den weißen Gardinen. Sie betrachtete den Zeichenblock, der auf dem Schreibtisch lag, daneben stand noch der Kasten mit den Wasserfarben. Kim hatte versucht, ein Pferd zu malen. Es sah ein bisschen nach einer verunglückten Ratte aus.
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 05.04.2007