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Virginia erzählte von Kims Verschwinden einen Tag zuvor, und Baker schien dies als ein beruhigendes Indiz zu werten.
»Manches spricht dafür, dass sich Ihre Tochter erneut verstecken wollte«, sagte er. Virginia blickte aus dem Fenster, sah ein paar kleine Fetzen Himmelsblau zwischen den Baumästen und dachte: Daran halte ich mich ja auch fest. An ihrem vorgestrigen Verschwinden. Wäre das nicht gewesen, ich würde wahnsinnig werden. Ich würde den Verstand verlieren.
Und dann lehnte sich Superintendent Baker vor, sah sie und Frederic an und sagte behutsam: »Ich leite die Ermittlungen in den Fällen Sarah Alby und Rachel Cunningham.«
Da begriff Virginia, welche Version in Wahrheit in Superintendent Bakers Kopf herumgeistern mochte.
Sie begann zu schreien.


2Es spricht wirklich vieles dafür, dass sich Ihre Tochter versteckt hat, nachdem genau das einen Abend vorher schon einmal passiert ist«, wiederholte Baker beruhigend. Er hatte eine Weile allein mit Frederic im Wohnzimmer gesessen, während Virginia nach oben gegangen war, ihre Tränen getrocknet und ihre Nase geputzt hatte. Es war nicht so, dass sie nicht selbst auch diesmal wieder an die beiden ermordeten Mädchen gedacht hatte, aber angesichts von Kims Flucht in ihr Baumhaus hatte sie diesen Gedanken nicht mehr wirklich zugelassen. Als Superintendent Baker die beiden Namen aussprach, war die Erkenntnis, dass auch dies nach wie vor eine echte Möglichkeit war, mit aller Macht über sie hereingebrochen, hatte sie verschlungen wie eine große Flutwelle und in eine Panik gestürzt, die namenlos und unendlich war. Frederic hatte sie in die Arme genommen und gehalten, und oben in ihrem Badezimmer hatte sie schließlich langsam ihre Fassung wiedergefunden. Rote, verschwollene Augen starrten ihr aus dem Spiegel entgegen, ein bleiches Gesicht, aufgesprungene Lippen.
»Das kann nicht sein«, murmelte sie beschwörend, »das kann einfach nicht sein.«
Als sie wieder unten saß, fühlte sie sich kalt und leer. Sie fror, ohne das Bedürfnis zu haben, etwas gegen das Frieren zu tun. Sie hatte zudem nicht den Eindruck, dass es irgendetwas gab, das sie dieser inneren Kälte hätte entgegensetzen können.
Baker sah sie aus freundlichen, einfühlsamen Augen an. »Mrs. Quentin, während Sie oben waren, erzählte mir Ihr Mann, Ihre Tochter sollte von einem Bekannten abgeholt werden, der dann jedoch verhindert war. Ein MrÉ«, er warf einen Blick in seine Aufzeichnungen, »Éein Mr. Nathan Moor. Ein Deutscher.«
»Ja.«
»Ich würde ihn gern sprechen. Können Sie mir sagen, wie ich ihn erreiche?«
Sie kramte den Zettel mit seiner Anschrift aus ihrer Jeanstasche. »Hier. Das ist eine Pension in Hunstanton. Dort wohnt er zur Zeit.«

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aker schrieb sich Adresse und Telefonnummer ab und gab Virginia den Zettel zurück. »ÄhÉ Mrs. Quentin, so ganz habe ich noch nicht begriffen, um wen es sich bei Nathan Moor genau handelt. Ihr Mann sagteÉ eine Art Zufallsbekanntschaft, die Sie in Ihrem Ferienhaus auf Skye machten? Mr. Moor hatte dort einen Schiffsunfall?«
»Er und seine Frau befanden sich auf einer Weltumsegelung. Direkt vor den Hebriden kollidierten sie mit einem Frachter. Ihr Schiff sank. Sie konnten sich nur mit der Rettungsinsel in Sicherheit bringen. Da Mrs. Moor zuvor bei uns gejobbt hatte, fühlte ich mich irgendwieÉ verantwortlich. Sie besaßen ja nichts mehr, von einem Moment zum anderen. Ich nahm sie in unser Ferienhaus auf.«
»Verstehe. Und nun hat sich Mr. Moor hier ganz in der Nähe eingemietet?«
»Ja.«
»Wo ist seine Frau?«
»Sie ist gestern früh abgereist. Vermutlich versucht sie, über die deutsche Botschaft in London nach Deutschland zurückzukommen.«
»Aber ihr Mann ist hier geblieben?«
»Ja.«
Baker neigte sich ein wenig nach vorn. »Verzeihen Sie«, sagte er, »aber so ganz verstehe ich es immer noch nicht. Weshalb sitzt dieser Schiffbrüchige nun in Hunstanton? Wie wollte er von dort übrigens Ihre Tochter hier in KingÕs Lynn von der Schule abholen?«
»Er hat mein Auto.« Es war Virginia klar, wie befremdlich dies alles in den Ohren des Superintendent klingen musste. »Das Auto war auch der GrundÉ Es sprang gestern Nachmittag plötzlich nicht an. Deshalb rief er Grace an. Grace Walker, unsereÉ«
»Ich weiß«, unterbrach Baker, »von Mrs. Walker haben Sie ja bereits berichtet. Mr. Moor hat also Ihr Auto?«
Ihm wird gerade manches klar, dachte Virginia.

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ie schaute Frederic nicht an. »Mr. Moor und ichÉ wir möchten in Zukunft zusammen bleiben. Zwischen unsÉ ich hätte mein Kind nicht einer Zufallsbekanntschaft anvertraut, Superintendent. Es ist inzwischen sehr viel mehr als das.«
Ein verlegenes Schweigen folgte ihren Worten. Frederic starrte auf den Boden zwischen seinen Füßen. Superintendent Baker notierte sich etwas.
»Ist Ihre Tochter über diese Pläne unterrichtet?«, fragte er.
»Nein«, sagte Virginia, »aber ich glaube, sie spürt, dass sich etwas verändert. Sie ist verängstigt. Ihr Weglaufen am vorgestrigen Abend hatte wohl etwas damit zu tun.«

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un«, sagte Baker, »so bedauerlich die derzeitigenÉ Familienkomplikationen in Ihrem Haus sind, so denke ich doch, dass Sie sich unter diesen Umständen auch ein wenig beruhigter fühlen dürfen. Es sieht mir immer mehr danach aus, dass Kim vor all diesen sich anbahnenden Umbrüchen weggelaufen ist. Sie versteckt sich irgendwo, wobei es mir sonderbar erscheint, dass ein siebenjähriges Kind dies so lange durchhalten sollte - angesichts von Hunger, Durst und der ganz natürlichen Angst vor der Dunkelheit. Ich fürchte daher, dass sie den Rückweg nicht mehr findet und irgendwo herumirrt.« Er erkannte die Panik in den Augen der Eltern und hob beide Hände. »Ich weiß, diese Vorstellung ist auch alles andere als schön. Und wir müssen alles tun, sie so schnell wie möglich zu finden. Aber es ist doch immer noch besser als der Gedanke anÉ an diese ungeheuerlichen Verbrechen, die geschehen sind.«
Virginia und Frederic sahen einander an. Beide dachten sie in diesem Moment das Gleiche: Vielleicht war sie tatsächlich weggelaufen. Vielleicht suchte sie wirklich verzweifelt nach dem Heimweg. Aber irgendwo da draußen befand sich auch jener Irre noch auf freiem Fuß, der es auf kleine Mädchen abgesehen hatte, und solange Kim nicht zu Hause war, bestand die Gefahr, dass sie ihm in die Hände fiel.
»Was werden Sie konkret als Nächstes tun, Superintendent?«, fragte Frederic.
»Ich werde Polizeistaffeln losschicken, die mit Hunden die ganze Gegend absuchen. Wir werden jeden Grashalm umdrehen, das kann ich Ihnen versprechen. Eventuell geben wir auch Suchmeldungen über den Rundfunk aus.«
»Aber ist das nicht zu gefährlich?«, fragte Virginia. »Denn dann erfährt doch auch derÉ dieser Geisteskranke, dass hier ein kleines Mädchen unbeaufsichtigt herumläuft!«

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ber damit ahnt er immer noch nicht, wo sie ist. Zudem weiß ich inzwischen einiges über seine Methode. Er greift sich nicht irgendein Kind und zerrt es in sein Auto, das wäre ihm vermutlich viel zu riskant. Er baut vorher eine Beziehung zu dem Kind auf, so dass dieses dann, ohne irgendein Aufsehen zu erregen, zu ihm einsteigt. Er geht sehr planvoll und vorausschauend vor.« Er überlegte kurz. »Etwas Derartiges haben Sie bei Kim nicht beobachtet in der letzten Zeit, oder? Sie hat Ihnen nicht von einem neuen Freund oder einem netten fremden Mann berichtet?«
»Nein. Nein, absolut nicht.«
»Ich werde trotzdem auch noch einmal mit ihren Freundinnen sprechen«, sagte Baker. »Kleine Mädchen vertrauen oftmals der besten Freundin doch mehr an als den Eltern. Sie können mir da sicher Adressen und Telefonnummern geben, Mrs. Quentin?«
»Natürlich«, sagte Virginia und stand auf.

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ls sie mit der Klassenliste zurückkehrte, hörte sie, wie Frederic gerade sagte: »Ich möchte unbedingt, dass Sie diesen Nathan Moor überprüfen, Superintendent. Der Mann ist mir mehr als suspekt. Mir ist klar, Sie werden nun denken, dass ich eine verständliche Abneigung gegen ihn hege, aber ich kann Ihnen nur versichern, er war mir schon zutiefst unangenehm, lange bevor erÉ sich für meine Frau interessierte.«
»Nathan Moor steht ganz oben auf meiner Liste«, versicherte Baker.
Als er gegangen war, blickte Virginia Frederic zornig an. »Ich finde es durchaus in Ordnung, wenn Nathan überprüft wird. Aber es war unnötig, ihn derart bei dem Superintendent anzuschwärzen!«
Frederic schloss sorgfältig die Haustür. »Ich habe ihn nicht angeschwärzt. Ich habe gesagt, was ich denke. Es geht um das Leben meines Kindes. Da werde ich doch nicht mit Informationen hinter dem Berg halten, nur weil das irgendwelche Empfindlichkeiten bei dir auslöst.«
»Er hat nichts mit ihrem Verschwinden zu tun!«
»Dabei würde er in das Muster passen, findest du nicht? Der nette Mann, der ganz neu in Kims Leben getreten ist und zu dem sie bedenkenlos ins Auto steigen würde.« (wird fortgesetzt)

Artikel vom 04.04.2007