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Wenn Moor Kim abgeholt hat, weshalb hat er sie dann nicht hier bei Grace abgeliefert?«
»Das verstehe ich auch nicht«, sagte Grace.
»Vielleicht haben sich die beiden verfehlt«, meinte Virginia, »Nathan kam mit Kim genau zu der Zeit hier an, als Grace in der Schule war und suchte.«
»Und wo ist er dann jetzt?«, fragte Frederic. »Wo ist Nathan Moor mit meiner Tochter?«
Alle drei sahen einander an.
»Vielleicht hat sie sich auchÉ«, begann Grace.
Und Virginia beendete den Satz: »Éwieder versteckt? Wie gestern Abend?«
»Das Kind ist offenbar völlig verzweifelt und durcheinander«, sagte Frederic. »Wir sollten vorsichtshalber bei ihrem Baumhaus nachschauen, ehe wir irgendetwas anderes unternehmen.«
»Ich kann mir kaum vorstellen, wie sie es von der Schule bis dorthin geschafft haben sollte«, meinte Virginia. Sie merkte, wie sie am ganzen Körper zu frieren begann. Es war keine vierundzwanzig Stunden her, seit Kim schon einmal verschwunden gewesen war. Der Schreck, das Entsetzen vom gestrigen Abend waren jäh und grausam gewesen, diesmal schlich sich die Angst ganz langsam an sie heran. Vieles sprach dafür, dass es zwischen Nathan und Grace ein Missverständnis oder einen Fehler in der Koordination gegeben hatte, und in diesem Fall saß Kim jetzt vielleicht mit Nathan in einem Burger King, trank einen Milchshake und war guter Dinge. Weniger schön war die Vorstellung, dass sie sich vielleicht erneut irgendwo verkrochen hatte. Zum einen würde es schwierig sein, sie zu finden. Zum anderen bedeutete es weitere, erhebliche Probleme. Unter Umständen würde es notwendig werden, einen Kinderpsychologen aufzusuchen. Zumindest bewirkten die Geschehnisse vom Vorabend, dass Virginia diesmal nicht sofort an den Kindermörder dachte.
Sie schlang die Arme fröstelnd um ihren Leib.
»Aber du hast Recht«, sagte sie, »wir gehen als Erstes zu ihrem Baumhaus. Grace, Sie warten hier und rufen uns an, wenn Kim auftaucht, ja?«
»Dann müssen Sie aber Ihr Handy wieder einschalten«, mahnte Grace.
»Natürlich.«
»Weshalb hattest du es überhaupt ausgeschaltet?«, fragte Frederic, während sie im Sturmschritt in den Wald einbrachen. Virginia antwortete nicht.
Er begriff. »Du hattest Angst, er ruft an, während wir beide miteinander reden, stimmtÕs? Für solch eine Affäre zahlt immer eine ganze Familie einen hohen Preis. In diesem Fall sogar dein eigenes Kind.«
Sie biss die Zähne zusammen. Nicht weinen. Sie mussten Kim finden. Es war keine Zeit für Tränen.
Sie betete, ihre Tochter möge in dem Baumhaus sein.
Aber sie glaubte es nicht.


Dritter Teil
Mittwoch, 6. September
1
E
s schien Virginia, als sei sie unvermittelt in ein schreckliches Drama geraten, in dem sie die Hauptrolle spielte und das schlimmer war als alles, was sie sich je hätte vorstellen können.
Ein kühler Septembertag. Neun Uhr am Morgen. Draußen war Wind aufgekommen. Er ließ die Blätter in den Bäumen rauschen und verblies die Regenwolken vom Vortag. Virginia wusste, dass der Himmel immer weiter werdende Strecken von Blau zeigte. Nach dem Schmuddelwetter der letzten Tage würde heute wohl sogar noch die Sonne hervorkommen.
Es wunderte sie, dass sie diesen Umstand - die sich anbahnende Veränderung des Wetters - überhaupt wahrnahm und in einem seltsam eintönig ablaufenden Rhythmus sogar schon wiederholt reflektiert hatte.
Die Sonne wird scheinen. Es wird wärmer werden. Irgendwann ist alles wieder gut.
Unfassbar war es jedoch, einem Superintendent gegenüberzusitzen, der sich als Jeffrey Baker vorgestellt hatte und der ihr, einen Notizblock in der Hand, Fragen nach ihrer verschwundenen Tochter stellte.
Denn Kim war noch nicht wieder aufgetaucht.
Im Baumhaus war sie nicht gewesen, die erleichternde Situation der Nacht zuvor, als sie sie erschöpft, verfroren, verängstigt, aber lebendig dort gefunden hatten, hatte sich nicht wiederholt. Natürlich hatten sie es auch nicht wirklich erwartet. Der Weg von der Schule bis dorthin war weit, kaum vorstellbar, wie ein siebenjähriges Kind ihn hätte zurücklegen sollen.

S
ie waren durch weitere Teile des Parks gestreift, aber es war immer dunkler geworden, und sie hatten keine Taschenlampen dabeigehabt. Irgendwann war Frederic, dem die Dornenranken zwei blutige Kratzer ins Gesicht geschnitten hatten, stehen geblieben.
»Das hat keinen Sinn, Virginia. Wir laufen hier ziellos herum, dabei wissen wir doch, dass sie so weit nicht gekommen sein kann. Lass uns zum Wagen zurückgehen und heimfahren.«

A
ls sie ihr vor Graces Haus geparktes Auto erreichten, fuhr soeben der Wagen von Jack Walker durch das große Parktor. Ein erschöpfter und ziemlich übernächtigt wirkender Jack stieg aus.
»Mrs. Quentin! Sir!«, rief er, und sein verwunderter Blick verriet Virginia, dass sie wohl beide nach ihrem Streifzug durch Dickicht und Unterholz recht abenteuerlich aussahen. »Ist irgendetwas passiert?«
»Kim ist verschwunden«, antwortete Frederic kurz.
»Verschwunden? Grace wollte sie doch von der Schule abholen. Sie hatteÉ«
»Sie war nicht in der Schule, als Grace dorthin kam«, unterbrach ihn Virginia.
»Jack, ich weiß, Sie haben eine lange Fahrt hinter sich und sind todmüde, aber würden Sie mich zur Schule begleiten?«, fragte Frederic. »Ich möchte das ganze Schulgelände und die Straßen ringsum absuchen. Sie hat sich gestern in ihrem Baumhaus versteckt, vielleicht tut sie heute etwas Ähnliches. Und vier Augen sehen mehr als zwei.«
»Klar, Sir. Ich bin dabei«, sagte Jack sofort.
Frederic wandte sich an Virginia. »Du gehst nach Hause und telefonierst alle ihre Klassenkameraden an. Und ihre Lehrer. Vielleicht ist sie mit jemandem mitgegangen und hat behauptet, wir wüssten davon. Und dannÉ«
»Was?«, fragte Virginia, als er stockte.
»Und dann versuche doch Kontakt mit Nathan Moor aufzunehmen. Vielleicht weiß er noch etwas.«
»Das geht nicht. Er hat kein Handy, und ich weiß nicht, wo er Unterkunft gefunden hat. Ich muss warten, bis er sich bei mir meldet.«
»Zweifellos wird er das irgendwann tun«, sagte Frederic kalt. Ohne dass er es mit einem einzigen Wort erwähnte, war klar, wem er die Schuld an Kims Verschwinden gab: ihrer Mutter und dem Umstand, dass sie dabei war, die Familie zu zerstören.
Während Frederic und Jack die Schule absuchten, den Hausmeister herausklingelten, sich alle Räume aufschließen ließen und sogar einen nahe gelegenen Park durchkämmten, telefonierte sich Virginia durch die ganze Liste der Telefonnummern von Kims Klassenkameraden. Überall erhielt sie die gleiche niederschmetternde Antwort: »Nein. Bei uns ist sie nicht.«

S
ie ließ sich die Kinder an den Apparat holen, aber keines wusste etwas zu berichten, das ihr weiterhelfen konnte. Die interessanteste Information bekam sie von Kims bester Freundin, der kleinen Clarissa OÕSullivan: »Wir sind zusammen rausgegangen. Sie hat gesagt, dass sie abgeholt wird, und ist vor dem Tor stehen geblieben. Ich bin schnell weitergegangen, weil es so geregnet hat.«
Das klang nicht so, als habe Kim vorgehabt, sich zu verstecken oder wegzulaufen. Virginia sah ihre Tochter vor sich, wie sie im strömenden Regen vor dem Schultor stand, die Kapuze ihres gelben Regenmantels ganz fest um den Kopf gezurrt. Ich werde abgeholtÉ Und dann war niemand gekommen. Mummie nicht, Daddy nicht, Nathan nicht. Und Grace mit einer Viertelstunde Verspätung.
Was war in dieser Viertelstunde geschehen?
Der Regen. Virginia strich sich über die müden Augen, in denen die Tränen brannten, die zu weinen sie sich jedoch nicht erlaubte. Der Regen mochte sie von der Straße weggetrieben haben. Aber doch höchstens bis ins Innere des Schulgebäudes. Und dort hatte Grace überall nachgesehen, wie sie immer wieder versichert hatte.
Warum meldete sich Nathan nicht?
Warum hatte sie ihr Handy ausgeschaltet?
Warum hatte sie ihr Kind schon wieder anderen überlassen?

D
ie Klassenlehrerin, die sie nach mehreren vergeblichen Versuchen erreichte, konnte ihr auch nicht weiterhelfen. Nein, ihr sei nichts Besonderes an Kim aufgefallen an diesem Tag. Ein bisschen müde habe sie gewirkt. Aber nicht verstört oder durcheinander. In den Pausen habe sie lebhaft mit den anderen Kindern gespielt. Virginia ließ sich die Nummern der anderen Lehrer geben und rief einen nach dem anderen an, aber sie erhielt keinerlei Hinweise. Alles heute schien ganz normal gewesen zu sein.
Der Lehrer, bei dem Kim in den letzten beiden Stunden Zeichenunterricht gehabt hatte, erinnerte sich, sie nach Schulschluß am Tor stehen gesehen zu haben.
»Mir war klar, dass sie darauf wartete, abgeholt zu werden«, sagte er.


(wird fortgesetzt)

Artikel vom 02.04.2007