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Die Mischung aus Salzwasser, Meereswind und süß duftenden Septemberrosen war einmalig schön. Man sollte wirklich nicht in der Stadt wohnen, dachte er.
Als er in sein Auto stieg, hatte Nathan Moor bereits die Haustür wieder geschlossen. Nur die kleine Lampe am Gartenweg brannte, sonst war alles dunkel und still. Wie üblich fertigte Baker im Kopf eine kurze Zusammenfassung seiner Eindrücke an: Undurchsichtiger Typ. Verständlich das Unbehagen, mit dem Frederic Quentin von Anfang an auf ihn reagiert hat - unabhängig von der Tatsache, dass er womöglich seine Frau an ihn verliert. Moor ist intelligent, höflich, sehr von sich überzeugt. Er lässt niemanden hinter seine Fassade schauen.
Ist er ein Verbrecher?
Dafür wiederum, dachte Baker und startete seinen Wagen, gibt es nun auch wieder nicht den geringsten Anhaltspunkt.
Was den Fall Kim Quentin betraf, hatte ihm das Gespräch, zumindest vorläufig, überhaupt nichts gebracht.


Donnerstag, 7. September
1
Zum ersten Mal, seit sie zur Schule ging, durfte Janie zu Hause bleiben, ohne krank zu sein. Und sie hatte nicht einmal darum bitten müssen: Ihre Mutter hatte es ganz von selbst vorgeschlagen. Am gestrigen Abend noch, als sie daheim zusammensaßen. Nach den vielen Stunden bei der Polizei. In Janies Kopf hatte sich alles gedreht, und sie war völlig durcheinander gewesen.
Das nächste Wunder war: Auch Doris nahm sich frei. Obwohl sie ebenfalls nicht krank war. Das war auch noch nie vorgekommen, im Gegenteil: Doris schleppte sich noch in die Wäscherei, selbst wenn sie hohes Fieber oder Schüttelfrost hatte. Janie hatte schon oft gedacht, dass Mum auf dieser Welt nur eine einzige Angst kannte - dass sie ihre Arbeit verlieren könnte.
Doch nun ging ihr auf, dass es da noch eine andere Angst gab, eine, die vielleicht sogar schwerer wog. Doris hatte auch Angst um sie, um Janie. So elend, so blass, so entsetzt wie am gestrigen Tag war sie noch nie gewesen. Irgendwie hatte Janie zunächst gar nicht verstanden, weshalb das so war. Im Lauf der Stunden hatte sie gemerkt, dass offenbar niemand den netten Mann, der ihr den Geburtstag hatte ausrichten wollen, so toll fand wie sie. Jeder, der ihre Geschichte hörte, schien ganz erschrocken zu sein, und dann hatte sie sie wieder und wieder erzählen müssen, jede Kleinigkeit wollte man bei der Polizei wissen. Vor allem, wie der Mann aussah. Ihn zu beschreiben fiel Janie am schwersten. So lange hatte sie ja nicht mit ihm gesprochen, und es war auch schon einige Zeit verstrichen.
»Würdest du ihn denn erkennen, wenn du ihn siehst?«, hatte die nette Frau mit den langen braunen Haaren gefragt, die sich hauptsächlich um Janie gekümmert hatte. Janie hatte ständig überlegt, ob sie auch Polizistin war. Sie war so hübsch und hieß Stella. Janie durfte sie auch so nennen.
»Ich glaube schon«, hatte Janie geantwortet, »ja, ich würde ihn erkennen.«
»Weißt du ungefähr, wie alt er war?«
Das war schwer zu sagen. »Mittelalt«, meinte Janie.
»So wie deine Mummie?«
»Älter.«
»Wie dein Großvater?«
»Ich habe keinen Großvater.«
»Aber du kennst die Großväter von anderen Kindern?«
»Ja.« Aber die wirkten immer so verschieden alt, fand Janie.
»Ich weiß nicht«, sagte sie.
Stella war die ganze Zeit über geduldig geblieben. Auch als sich Janie beim besten Willen nicht an die Augenfarbe des Fremden erinnern konnte oder daran, was er angehabt hatte. Wenigstens die Haarfarbe glaubte sie noch zu wissen.
»Braun«, sagte sie, »so wie Ihre.«
»Aha«, sagte Stella und seufzte leise, »also die durchschnittlichste Haarfarbe, die man sich denken kann.«
»Vielleicht noch mit ein bisschen grauÉ« Aber das hätte Janie nicht beschwören können.
Ein Zeichner war gekommen, der den Fremden nach ihren Angaben malen sollte, aber sie merkte, wie schwankend und ungenau ihre Erinnerungen waren. Alle blieben nett, und doch konnte Janie die Enttäuschung der Erwachsenen spüren. Sie war sich vorgekommen wie in der Schule, wenn ein Lehrer unzufrieden mit ihr war, und hatte schließlich zu weinen begonnen. Klar war es nicht richtig von ihr gewesen, die Schule zu schwänzen, aber wie hätte sie wissen sollen, dass sie einen solchen Trubel auslösen würde?

D
ann hatten sie endlich nach Hause gehen dürfen, aber diesmal hatten sie nicht den Bus genommen wie auf der Hinfahrt. Diesmal hatte ein Beamter sie im Auto gefahren. Zum Abschied hatte er zu Mummie gesagt: »Sie müssen jetzt sehr, sehr ernsthaft mit Ihrer Tochter reden. Sie muss begreifen, in welcher Gefahr sie geschwebt hat!«
Und Mummie hatte geantwortet: »Ich werde mit ihr reden. Verlassen Sie sich darauf.«
Janie hatte heftiger geweint, denn es war klar, dass nun wütende Vorhaltungen über sie hereinbrechen würden. Außerdem würde sich Mummie schlimme Strafen ausdenken: keine Geburtstagsgeschenke, monatelang überhaupt kein Taschengeld mehr, und wahrscheinlich durfte sie mindestens bis Weihnachten keine Freundin besuchen oder an Geburtstagsfeiern teilnehmen.

A
ber seltsamerweise hatte Mummie nicht geschimpft, sondern ihr Sandwiches gemacht, ein Schaumbad eingelassen und sie dann ins Bett geschickt.
Beim Essen hatte Mummie auch geweint. Und schließlich verkündet, sie werde am nächsten Morgen nicht zur Arbeit gehen, und Janie werde ebenfalls daheim bleiben, und sie würden miteinander reden.
»Ich tu es nie wieder«, beteuerte Janie beim Frühstück, »ich schwänze nie wieder die Schule.«
»Nein, das solltest du auch nicht«, sagte Doris, »es ist nicht gut, die Schule zu schwänzen. AberÉ«
»Ja?«
»Aber es ist nicht das Schlimmste. Es ist, weiß Gott, nicht das Schlimmste«, sagte Doris und wischte sich mit dem Handrücken über die Augen.
Sie sah Janie an.
»Dieser Mann«, sagte sie, »dieser Mann, der angeblich eine Geburtstagsparty für dich veranstalten wollte - weißt du, was
er in Wahrheit vorhatte?«
»Nein.«
»Er wollte dich töten«, sagte Doris.
Janie wäre fast der Kakaobecher aus der Hand gefallen. »Töten? Warum?«
»Es ist schwierig, so etwas in deinem Alter zu verstehen«, sagte Doris, »aber es gibt solche Männer. Sie töten kleine Mädchen. Oder auch kleine Jungs. Es macht ihnen Spaß. Sie sind krank, sie sind verrückt, was weiß ich. Es ist auch egal, was sie zu Monstern gemacht hat. Wichtig ist nur, dass man sich vor ihnen in Acht nimmt. Man darf nie, nie, nie zu ihnen ins Auto steigen. Ganz gleich, was sie versprechen oder behaupten. Nie. Unter keinen Umständen. Das habe ich dir doch früher schon manchmal gesagt, erinnerst du dich? Dass du nie mit Fremden mitgehen sollst.«
»Ja«, sagte Janie leise. Das hatte ihre Mutter gesagt. Sie hatte überhaupt nicht daran gedacht.
»Aber er war so nett«, fügte sie hinzu, »wirklich, Mummie, total lieb und freundlich.«
»Ja, was glaubst denn du, wie sie das sonst machen sollten?«, fragte Doris erregt. »Meinst du, sie bringen Kinder dazu, mit ihnen zu gehen, indem sie garstig und böse sind? Nein, natürlich sind sie reizend, und sie versprechen immer wunderbare Überraschungen. Aber am Schluss landest du in irgendeinem gottverlassenen Keller, und sie tun Dinge mit dirÉ« Sie sprach nicht weiter.
Janie sah sie aufmerksam an. »Was für Dinge, Mummie?«
»Schreckliche Dinge. Sie tun dir weh. Sie quälen dich. Du weinst und schreist nach deiner Mummie, aber sie lachen nur. Und schließlich töten sie dich, damit du niemandem erzählen kannst, dass sie dir wehgetan haben. Und das alles nur, weil du so leichtsinnig warst, ihnen zu glauben.«
Janie konnte sich das fast nicht vorstellen. Der nette Fremde hatte ihr wehtun wollen? Sie töten? Mum war offenbar davon überzeugt. Stella auch. Und alle anderen bei der Polizei ebenfalls. Vielleicht stimmte es. Schon wieder traten ihr die Tränen in die Augen.
»Ich tu es nicht, Mummie«, schluchzte sie, »ich gehe nicht mit, wenn mich noch einmal einer fragt.«

D
oris zündete sich eine Zigarette an. Ihre Hände zitterten leicht. »Würdest du morgen früh mit mir zu einer Beerdigung gehen?«, fragte sie.
»Morgen früh? Muss ich da schon wieder nicht in die Schule?«
»Nein. Und ich werde auch nicht arbeiten. StattdessenÉ«
»Wer wird denn beerdigt?«, fragte Janie. Sie hätte kaum sagen können, wie verwirrend sie das alles fand.
»Ein kleines Mädchen«, antwortete Doris. »Sie war etwa so alt wie du.«
Ein schrecklicher Verdacht keimte in Janie. Sie wagte es beinahe nicht, ihn auszusprechen. »Ist sieÉ dieses MädchenÉ ist sieÉ?«
»Ja«, sagte Doris. »Sie wurde getötet. Von einem Mann, der ihr etwas Schönes versprochen hat. Deshalb ist sie in sein Auto gestiegen.«
Janie schluckte. Ihr Hals fühlte sich plötzlich ganz eng an. »Nein«, hörte sie sich sagen, »ich will dort nichtÉ«
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 14.04.2007