17.03.2007 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 

Der gewiefte Taktiker mit
dem weltpolitischen Gespür

Deutschlands Dauerläufer im Außenamt setzte zuerst auf Gorbatschow

Von Reinhard Brockmann
Bielefeld (WB). Hans-Dietrich Genscher, Dauerläufer im Auswärtigen Amt, seit 1956 liberaler Vordenker in Bonn und Diener dreier Bundeskanzler, feiert nach schwerer Krankheit am Mittwoch 80. Geburtstag
Genschers vermutlich schwerste Stunde: Bundesinnenminister während des Olympia-Massakers 1972.
So wie in seinen besten Zeiten auf allen Flugrouten beinahe gleich präsent, absolviert der betagte Jubilar bis zum 21. März ein gutes Dutzend öffentlicher Auftritte. Von den Steiger-Awards an diesem Samstag in Bochum, über ein großes Fest mit 2000 Gästen im Zirkus Sarasani bis zu einer Reihe von Diskussionen wird Genscher noch einmal auf fast allen Sendern zu sehen sein.
Der 1927 an der Saale geborene Sohn eines Juristen liebte den Auftritt und die politische Rede. Falls er aber zu einer öffentlichen Veranstaltung anreiste, ohne genügend Plakate mit seinem Konterfei zu entdecken, sahen die örtlichen Parteifreunde den prominenten Ehrenvorsitzenden kein zweites Mal.
Gudrun Kopp, Ostwestfalen-Lippes liberale Vorfrau, ist ihm häufig begegnet und wird auch beim Sarasani-Empfang dabei sein. Zweimal musste die Lipperin mit ansehen, wie Genscher am Rednerpult zusammenbrach. Kopp: »Als Bundesaußenminister hat Hans-Dietrich Genscher schlicht Übermenschliches geleistet und sich in keiner Weise geschont.«
Genscher überlebte den Krieg, weil er sich in den letzten Tagen noch auf die amerikanisch besetzte Seite der Elbe schlagen konnte. Danach folgte eine langes Tuberkuloseleiden, das ihn dreieinhalb Jahre in Heilanstalten fesselte.
Notabitur in Halle und Jurastudium in der Saalestadt sowie in Leipzig prägten die Jahre, am Ende stand die Gewissheit, dass es nur in den Westzonen eine Zukunft geben würde. Genschers erste politische Gehversuche in Bremen führten dazu, dass Thomas Dehler ihn 1956 nach Bonn holte. Schnell ging er seinen Weg in der FDP-Bundestagsfraktion. 1969 wurde er Innenminister unter Bundeskanzler Willy Brandt (SPD). Als Verantwortlicher für die innere Sicherheit erlebte er beim Olympia-Massaker 1972 in München die schwärzeste Stunde seines frühen politischen Wirkens.
Unbeschadet davon erreichte die FDP bei Bundestagswahlen im November 8,4 Prozent. Solcherart bestätigt, wurde Genscher im Mai 1974 unter dem neuen Kanzler Helmut Schmidt (SPD) Bundesaußenminister (für 18 lange Jahre) und übernahm von Walter Scheel das Amt des Parteivorsitzenden.
Nur mit Mühe gelang es ihm die 1980 auf 10,6 Prozent Wählerzustimmung aufgewertete Bundestagsfraktion auf den Nachrüstungsbeschluss im Raketenpoker USA-UdSSR festzulegen.
Als Außenminister zog er in den ausgehenden 70er Jahre eine eigene Spur in der Entspannungspolitik. Genscher war es, der die KSZE-Schlussakte von Helsinki - zunächst ein Projekt des Ostens - 1975 weiterentwickelte. Nach Egon Bahr setzte Genscher die deutschen Duftmarken im kaum entspannten kalten Krieg.
Ganz nebenbei galt es noch die Partei und sich selbst möglichst unbeschadet aus der sozialliberalen Koalition zu lösen und in einer christliberalen neuen Aufstellung mit CDU-Kanzler Helmut Kohl im Oktober 1982 fortzuführen. Prominente Liberale wie Ingrid Matthäus-Maier und Ex-Generalsekretär Günter Verheugen traten zur SPD über. Nur, oder eben doch noch 6,9 Prozent FDP-Stimmen bei der Bundestagswahl im März 1983 zeigten, dass der gewiefte Genscher ein riskantes Spiel gewagt und gewonnen hatte.
Politischer Instinkt dürfte es auch gewesen sein, der Genscher als einen der ersten Politiker im Westen riet, den neuen Mann im Kreml ernst zu nehmen. Der Bundesaußenminister witterte offenbar die Chance, die ein bis dato unbeschriebener Michail Gorbatschow eröffnete. Weder Tschernobyl noch fortwährendes Säbelrasseln trübten Genschers Gespür.
Der Vizekanzler, nicht Kohl, war die deutsche Führungsfigur in der Vor- und Frühphase des Mauerfalls vom 9. November 1989 an. Hierzulande wegen seines »Genscherischmus« gescholten, in Washington von Richard Burt als »aalglatter Kerl« abgetan, hatteBonns zweiter Mann die Grenzfrage zu Polen am 1. September 1989 »ein für allemal erledigt« erklärt.
Unvergessen ist sein Einsatz für flüchtige DDR-Bürger in den bundesdeutschen Botschaften zu Budapest, Sofia, Warschau und Prag. In seiner größten Stunde praktischer Diplomatie stand Genscher am 30. September 1989 auf dem Balkon der mit 5000 Flüchtlingen überfüllten deutschen Botschaft in Prag. Seine Worte »...Ihre Ausreise...« gingen in grenzenlosem Jubel unter.
Das alles erfolgte in enger Abstimmung mit Kohl, der erst kurz vor Weihnachten 1989 nach Dresden reiste und einen Zehn-Punkte-Plan für runde Tische hinterließ. 1990 trat Genscher dann wieder hinter den »Kanzler, der Einheit«, dem er bei den Zwei-plus-vier-Verhandlungen, im Kaukasus und in den westlichen Hauptstädten nahtlos zuarbeitete.
Es dürfte interessant sein, mit welch geschliffenen Worten Genscher in diesen Tagen der Geburtstagsfeierlichkeiten Fragen nach dem wahren Vater der deutschen Einheit beantworten wird. Beobachter sind überzeugt, dass Genscher allein Gorbatschow dieses Verdienst zurechnet. Dennoch wird der Liberale Formulierungen finden, die Helmut Kohl gerecht werden.
Innenpolitisch trug Genscher zu der von Kohl 1982 angekündigten »geistig-moralischen Wende« bei. Während dem Kanzler vorgehalten wird, das Versprechen nie mit Leben erfüllt zu haben, rührte Genscher mutig an Tabus jener Tage. Überhaupt nicht selbstverständlich sprach er sich schon 1983 für Elite-Universitäten, die Förderung Hochbegabter und für Spitzentechnologie aus. Auch wandte er sich gegen Kulturpessimismus und die »Kardinaltugend der Angst«, die jeden Aufbruch im Keim erstickte. Sein Ruf verhallte ungehört, selbst bei den Bürgerlichen. Enttäuschung bereitete ihm auch seine Heimatstadt Halle an der Saale, wo er im Bundestagswahlkampf 1994 bei einer Parteiveranstaltung vor nur noch neun Zuhörern sprach - trotz zahlreicher Plakate. »Die Leute wollen bunte Hunde sehen«, kommentierte der in diese Phase populärere Jürgen W. Möllemann.
Der eine ist abgestürzt, der andere in den Olymp der großen Nachkriegsdeutschen aufgestiegen. Mitunter wird Genscher mit Philipp Scheidemann (SPD) verglichen. Tatsächlich hat der Bonner mehr geleistet als der Weimarer Politiker, der 1918 am Fenster des Reichstages die Republik ausrief. Der Vergleich ist zulässig. Er steckt den Zeitrahmen ab, bis vielleicht wieder eine ähnlich prägende Person Deutschland so dauerhaft dient, denkt und deutet.

Artikel vom 17.03.2007