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War es nicht ein Schiffsuntergang gewesen, der Nathan Moor in das Leben der Familie Quentin hineinkatapultiert hatte?
Draußen wurde es dunkel. Der Septembertag neigte sich seinem Ende zu. Schwach konnte man noch die Dünen erkennen. Dahinter lag das Meer.
Ein schöner Platz zum Wohnen, dachte Baker.
Jenseits seines beruflich begründeten Interesses an Nathan Moor war er neugierig gewesen, zu sehen, welcher Mann es geschafft hatte, in die Ehe der Quentins einzubrechen. Schon bevor die kleine Kim Quentin verschwunden war, hatte Baker Frederic Quentin aus den Medien gekannt, er war häufig in den Zeitungen oder sogar im Fernsehen zu sehen gewesen. Ein gut aussehender, sehr gebildeter und kultivierter Mann, der noch dazu über großes gesellschaftliches Ansehen und einigen Reichtum verfügte. Ein Mann, wie Baker geglaubt hätte, von dem jede Frau träumte und den die Frau, die ihn für sich gewonnen hatte, nicht so leicht wieder hergeben würde. Nun aber schien Virginia Quentin drauf und dran, aus ihrer Beziehung auszubrechen.
Was, wie Baker etwas resigniert dachte, wieder einmal geeignet war, den Unterschied zwischen Sein und Schein deutlich werden zu lassen. Vielleicht hatte hinter der schönen Fassade der Quentins nichts gestimmt.

N
athan Moor war ein Mann, der es leicht hatte bei Frauen, das war Baker auf den ersten Blick klar gewesen. Er sah nicht nur gut aus, er verfügte zudem über eine Menge Charme, den er vermutlich recht gezielt einzusetzen wusste. Auch ging eine gewisse sexuelle Aggressivität von ihm aus, die Frauen sicherlich noch viel stärker wahrnahmen als er, der nüchterne männliche Kriminalbeamte.
Ein hohes Einfühlungsvermögen, ein intuitives Gespür für die Bedürfnisse und möglicherweise die Defizite seines Gegenübers und eine latent spürbare erotische Bereitschaft.
So hätte ihn Baker beschrieben, wenn er ihn in wenigen Worten hätte charakterisieren sollen. Wobei er wusste, dass er sich damit vollkommen an der Oberfläche bewegte. Nathan Moors Tiefen oder Untiefen hatte er damit natürlich nicht im Mindesten erfasst.
»Seit wann kennen Sie Mrs. Virginia Quentin?«, fragte er nun sachlich.
Moor überlegte nicht einen Moment. »Seit dem 19. August diesen Jahres. Seit nunmehr bald drei Wochen also.«
»Vorher haben Sie niemanden von der Familie gekannt?«
»Nicht persönlich. Aber während wir im Hafen von Portree auf Skye ankerten, hat meine Frau für die Quentins gearbeitet. Im Garten und im Haushalt geholfen. Daher waren sie mir auch vorher schon ein Begriff.«
»Kim Quentin kennen Sie ebenfalls seit dem 19. August?«
»Ja.«
»Wie steht das Kind zu Ihnen?«
»Ich glaube, sie mag mich. Wobei ihr im Moment wohl noch nicht klar istÉ« Er sprach nicht weiter. Baker sah ihn aufmerksam an.
»Ja? Was ist Kim nicht klar?«
Moor lehnte sich nach vorn. »Superintendent Baker, ich bin nicht sicher, obÉ«
Baker wusste, worauf er hinauswollte.
»Mr. Moor, es ist mir bekannt, dass Sie intime Beziehungen zu Mrs. Quentin unterhalten. Und dass Sie beide eine gemeinsame Zukunft planen. Es erscheint mir, wie auch den Eltern des Kindes, als eine recht wahrscheinliche Möglichkeit, dass das Verschwinden der Kleinen auf genau diesen Umstand zurückzuführen ist.«
»Dann wissen Sie Bescheid«, sagte Moor, »und ich kann offen reden.«
»Darum würde ich Sie dringend ersuchen«, entgegnete Baker.
»Um auf Ihre Frage nach dem Verhältnis Kims zu mir zurückzukommen«, sagte Moor, »so denke ich, dass Kim nichts von der Affäre zwischen mir und ihrer Mutter weiß. Insofern beeinträchtigt dies nicht ihre Sympathie für mich. Kim fühlt sich von Virginia vernachlässigt, und sie hat sicher den Eindruck einer diffusen Bedrohung, die sich in ihr Leben zu schleichen beginnt. Darum ist sie schon einmal weggelaufen. Und sicher ist es diesmal aus demselben Grund geschehen.«
Baker nickte. Im Geiste machte er sich eine Notiz: Moor hatte das Wort Affäre benutzt, als er über seine Beziehung zu Virginia Quentin sprach. Da er Ausländer war und sich in einer ihm fremden Sprache ausdrückte, mochten ihm gewisse Feinheiten nicht geläufig sein. Es bestand jedoch auch die Möglichkeit, dass die Geschichte mit Virginia für ihn nicht den gleichen Stellenwert besaß wie für sie. Es mochte für den Fall unerheblich sein, aber Baker war daran gewöhnt, sich derlei Details zu merken.
»Ich verstehe«, sagte er.
Er überlegte einen Moment und fuhr dann fort: »Als Sie merkten, dass Ihr Wagen nicht ansprang, dass Sie also Ihren Auftrag, Kim Quentin von der Schule abzuholen, nicht erfüllen konnten, was haben Sie da gemacht?«
»Ich war ja auf dem Strandparkplatz drüben in New Hunstanton«, erklärte Moor, »und da gibt es zum Glück noch eine gute, altmodische Telefonzelle. Ein Handy besitze ich nicht mehr. Das ist zusammen mit meinem Schiff untergegangen.«
»Sie telefonierten?«
»Ja. Zuerst versuchte ich ein paar Mal, Virginia zu erreichen. Aber sowohl bei ihr daheim als auch auf ihrem Handy sprang immer nur der Anrufbeantworter an. Sie hatte an diesem Nachmittag eine Aussprache mit ihrem Mann. Sie wollte nicht gestört werden.«
»Verstehe«, sagte Baker noch einmal.

J
a, und dann fiel mir nur noch dieses Verwalterehepaar ein, wobei ich ziemlich lange überlegen musste, wie die eigentlich heißen. Walker. Jack und Grace Walker. Ich wusste, dass Jack Walker in Plymouth war und dass Grace die Grippe hatte, aber was blieb mir übrig? Über die Auskunft bekam ich die Nummer. Ich verständigte Grace. Dann ging ich wieder zu meinem Auto und versuchte weiterhin, es zum Anspringen zu bewegen.«
»Wie viel Uhr war es, als Ihr Wagen ansprang? Als Ihnen der fremde Herr mit dem Starterkabel geholfen hatte?«
»Ich schätze, das war kurz vor sechs«, meinte Nathan.
»Sie fuhren dann nicht mehr zu der Schule in KingÕs Lynn?«
»Nein. Natürlich nicht. Ich wäre wohl erst gegen sieben Uhr dort gewesen. Ich hoffte einfach, dass alles geklappt hätte und dass Kim längst daheim sei.«
»Wann erfuhren Sie, dass dem nicht so war?«
»Ziemlich spät am Abend. Von hier aus rief ich noch einmal bei Virginia an. Es war bestimmt schon halb elf. Sie war völlig aufgelöst und zunächst ziemlich aggressiv. Sie gab mir die Schuld an Kims Verschwinden.«
»Hm.« Baker wechselte abrupt das Thema. »Wie lange werden Sie in England bleiben, Mr. Moor?«
»Ist das wichtig?«
»Ich frage nur.«
»Ich weiß es noch nicht. Ich habe noch keine Gelegenheit gehabt, mir über meine Zukunft klar zu werden.«
Drei Wochen, dachte Baker, seit sein Schiff untergegangen ist. Und er hatte noch keine Gelegenheit, sich über seine Zukunft klar zu werden?

V
ielleicht war er sich aber durchaus klar geworden. Und hatte auch schon eifrig daran gebastelt, seine Vorstellungen in die Tat umzusetzen. Er lebte im Augenblick offenbar auf Virginia Quentins Kosten. Er fuhr ihr Auto, und wahrscheinlich bezahlte sie auch seine Unterkunft in dem idyllischen Häuschen am Meer. Darüber hinaus war sie entschlossen, ihr Schicksal mit dem seinen zu verbinden. Kein schlechter Fang, den er da getätigt hatte.
Baker sagte sich jedoch auch, dass er vorsichtig sein musste, was Unterstellungen betraf. Langjährige Berufserfahrung hatte ihn gelehrt, dass die Dinge selten das waren, was sie zu sein schienen. Vielleicht liebte Nathan Moor Virginia Quentin wirklich. Die bloße Tatsache, dass ein Unfall ihn bettelarm gemacht hatte, musste nicht bedeuten, dass er mögliche Beziehungen nur unter dem Aspekt des Geldes sah. Man musste sich vor Klischees hüten. Häufig war alles etwas anders, als man dachte, und häufig war es vor allem ziemlich vielschichtig. Beinhaltete von diesem Aspekt ein wenig und von jenem auch.
Und möglicherweise hatte Nathans und Virginias Liebesgeschichte auch überhaupt nichts mit dem Verschwinden der kleinen Kim zu tun.
»Ihre Frau ist aber schon in Deutschland?«, hakte Baker noch einmal nach.
»Das weiß ich nicht genau. Sie ist jedenfalls abgereist, und ich vermute, dass sie versucht, nach Deutschland zu gelangen. Wo sie sich im Moment genau aufhält, kann ich Ihnen nicht sagen.«

B
aker faltete seinen Zettel zusammen, schob ihn und seinen Kugelschreiber in die Innentasche seines Jacketts. Er stand auf.
»Das wäre erst einmal alles, Mr. Moor«, sagte er. »Ich muss Sie sicher nicht darauf hinweisen, dass Sie verpflichtet sind, mir alles zu sagen, was auch nur entfernt in einem Zusammenhang mit Kim Quentins Verschwinden stehen könnte. Also, wenn Ihnen noch etwas einfälltÉ«
»Dann wende ich mich selbstverständlich sofort an Sie«, sagte Nathan und erhob sich ebenfalls. Die beiden Männer verließen den Raum und gingen zur Haustür. Baker trat hinaus. Er atmete tief. Kam es ihm nur so vor, oder war es eine Tatsache, dass die Nacht stets alle Gerüche intensivierte?
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 13.04.2007