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Die Bilder von
damals lassen
ihn nicht los

Die Traumata der NS-Verfolgten

Dornberg (WB). Kurt Gehoff hatte immer Glück. Der Kommandant im KZ war freundlich, die Russen, die ihn erst befreiten und dann mit nach Moskau nahmen, waren freundlich, genauso wie die Deutschen, zu denen er 1949 zurückkehrte. So und nicht anders möchte sich Kurt Gehoff erinnern.

1922 wurde er als deutscher Bürger jüdischen Glaubens in Ostpreußen geboren. Heute ist er 85 Jahre alt und wohnt im Pflegezentrum am Lohmannshof, einer Einrichtung der v. Bodelschwinghschen Anstalten Bethel. Obwohl er sich dort wohl fühlt, geht es Kurt Gehoff nie gut. Eine abgrundtiefe Traurigkeit begleitet ihn und lässt ihn manchmal verzweifeln. »Das sind die Bilder von damals, die ich nicht mehr loswerde«, flüstert er.
Als junger Mann wollte Kurt Gehoff Ingenieur werden. Deshalb ging er zum Studium an die Staatsbauschule in Schwerin. 1936 klopften SS-Männer an seine Wohnungstür und brachten ihn in ein Lager bei Berlin. »Der Leiter des Konzentrationslagers war ein ganz hoher SS-Bonze. Der brauchte einen Ingenieur. Jeden Morgen ließ er mich aus dem Lager holen, damit ich draußen für ihn arbeitete«, erzählt der KZ-Überlebende. Abends kam Kurt Gehoff zurück ins Lager.
Er ging vorbei an den anderen Mitgefangenen, die bei Regen und Schnee in unzureichender Bekleidung stundenlang Appell stehen mussten. »Ich habe gesehen, wie sie reihenweise umgekippt sind. Ich habe die Frauen an den Pfählen gesehen, und was man mit ihnen gemacht hat. Ich hab alles gesehen.«
Auch Kurt Gehoffs Leben war ständig bedroht. Durch seine Fachlichkeit versuchte er sich unentbehrlich zu machen. Der junge Ingenieur war tüchtig und der Lagerkommandant mit ihm zufrieden. »Der SS-Mann war gut zu mir. Er sorgte dafür, dass ich zu essen bekam. Seine Frau gab mir Salben für meine Wunden. Sie haben mich gebraucht.« Und tatsächlich schaffte er es, bis zum Kriegsende am Leben zu bleiben. 1945 wurde das Lager von der Sowjet-Armee befreit. Kurt Gehoff musste mit nach Russland. »Sie glaubten mir erst nicht, dass ich ein Jude bin«, sagt Kurt Gehoff. Vier Jahre später kam er zurück nach Deutschland.
Über die traumatische Zeit im Konzentrationslager spricht Kurt Gehoff fast nie. Die Mitarbeitenden im Pflegezentrum hatten lange Zeit keine Ahnung, warum Kurt Gehoff so deprimiert und hoffnungslos ist. Und auch die anderen Bewohner wussten nicht, dass er Jude ist. Einmal jedoch ist es aus ihm herausgeplatzt. Er saß zusammen mit anderen Senioren, als diese in Erinnerungen an die schöne Jugendzeit schwelgten. »Während Sie sich amüsierten, war ich im KZ«, warf er dazwischen.
Anfang März haben die von Bodelschwinghschen Anstalten Bethel zu einer überregionalen Info-Veranstaltung eingeladen. Thema: »NS-Verfolgte in der Altenhilfe« . Noch heute leben rund 80 000 Menschen, die von den Nationalsozialisten verfolgt wurden, in Deutschland. Sie sind jetzt zwischen 63 und 100 Jahren alt. »Die Jüngsten sind 1944 im Konzentrationslager oder in irgendwelchen Verstecken geboren«, so Sonja Schlegel vom Bundesverband Information und Beratung für NS-Verfolgte. Viele dieser Menschen sind schon heute auf Hilfe angewiesen. Der Gedanke an ein Pflegeheim sei ihnen jedoch unerträglich, so Irith Michelsohn, Vorsitzende der jüdischen Kultusgemeinde Bielefeld. »Wir kennen das Problem von den Überlebenden der Shoa. Sie haben Angst davor im Altenheim, Tür an Tür oder gar in einem Zimmer mit Tätern zu leben.«
Nicht nur die Mitbewohner können ein Problem für die traumatisierten Menschen sein, sondern auch die Routineabläufe in Einrichtungen. »Das Duschen kann zum Beispiel ein Auslöserreiz sein, der zu einer Trauma-Reaktivierung führen kann«, erläutert Sonja Schlegel. Denn in den Vernichtungslagern wussten die Menschen nicht, ob sie zum Duschen geschickt wurden oder in die Gaskammer.
»Viele Überlebende haben es geschafft, nach Kriegsende das Trauma abzuspalten. Sie brauchten ihre ganze Kraft, um ein normales Leben zu führen. Doch im Alter wird die Schutzschale brüchig. Die Schreckensbilder der Vergangenheit halten Einzug in die Erinnerung«, so Petra Knirsch, Einrichtungsleiterin des Pflegezentrums am Lohmannshof.
Bei der Informationsveranstaltung kamen die jüdische Kultusgemeinde Bielefeld, der Bundesverband Information und Beratung für NS-Verfolgte und andere Organisationen überein, ein neues Netzwerk in Ostwestfalen-Lippe zu gründen. Dadurch sollen bessere Rahmenbedingungen für pflegebedürftige, traumatisierte Menschen geschaffen und die Mitarbeitenden in den Pflegeeinrichtungen noch stärker für die Problematik sensibilisiert werden.

Artikel vom 14.03.2007