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Bernd Ziesemeier

»Wir blenden den Horror der
chinesischen
Gewaltherrschaft systematisch aus.«

Leitartikel
Genickschusspraxis

Das hässliche China will keiner sehen


Von Reinhard Brockmann
Noch ist unklar, ob China mitten im wirtschaftlichen Hochglanzboom seine Genickschusspraxis selbst peinlich wird oder ob lediglich jemand am Ruf poliert. 2000 Hinrichtungen, die Untergrenze der geschätzten Jahresrate, sind mehr als alle Exekutionen in allen anderen barbarischen Ländern dieser Welt.
Vor diesem Hintergrund sind die gestern bekanntgemachten Anordnungen bemerkenswert. Die Todesstrafe sei schrittweise zu reduzieren, auch Geständnisse unter Folter und heimliche Exekutionen soll es nicht mehr geben. Vor allem aber die grundsätzliche Prüfung von Todesurteilen in Peking könnte brutaler Polizeipraxis und Willkürjustiz der Provinz Grenzen setzen.
Chinas Oberster Richter Xiao Yang lässt sich zitieren: »Weniger, überlegter und nach einheitlichen Standards« solle künftig von der drakonischsten aller Strafen Gebrauch gemacht werden. Mit anderen Worten: Bislang wurde häufig, unüberlegt und willkürlich zum Tode verurteilt - ein atemberaubendes Eingeständnis.
Die drastische Law-and-Order-Linie geht auf das Jahr 1980 zurück. Die Wirtschaftswende sollte nicht durch aufbegehrende Arbeiter gefährdet werden. Inzwischen bindet die Sehnsucht nach einem Minimum an Wohlstand weitgehend rechtlose Massen von selbst an den Zwölfstundentag.
Machen wir uns nichts vor. Weder in der Provinz, noch in der Hauptstadt des Reiches der Mitte fügt sich alles zum Guten, führt die Marktwirtschaft sozusagen von allein zur besseren Gesellschaft. Gern haben wir geglaubt, was Francis Fukuyama 1992 in »Ende der Geschichte« schrieb: »Ein totalitärer Staat hört auf, ein totalitärer Staat zu sein, sobald er die Entstehung eines privaten Sektors in der Wirtschaft zulässt.«
Tatsächlich unterscheide sich China immer noch in fundamentaler Weise von einem »normalen« autoritären Regime wie Singapur, sagt Bernd Ziesemeier, Chefredakteur des »Handelsblattes« und Träger des Medienpreises der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte. Gewalt als Massenphänomen sei gleichsam die DNA der chinesischen Diktatur, urteilt der ausgewiesene Chinakenner, der die Aufbauleistungen des Milliardenreichs gewiss nicht unterschätzt.
Denn die Exekutionen, selbst wenn sie um 20 Prozent zurückgehen, sind nur Teilaspekt eines schlimmen Unrechtssystems: Drei Millionen Menschen darben in 1000 Arbeitslagern. Jeder weiß um das Fortbestehen von Teilen des Archipels Gulag aus Sowjetzeiten. Wen aber alarmiert das Laogai-Straflagersystem? Wer spricht über massenhafte Zwangsabtreibungen im sechsten bis neunten Monat oder die Bestrafung von Frauen, die sich der Ein-Kind-Politik widersetzen? Im Wochenrhythmus berichten Hongkonger Zeitungen über Arbeiteraufstände in China.
Ziesemeier: »Fasziniert vom neuen Laboratorium der Moderne, begeistert über die Fabrik der Welt, blenden wir den Horror der chinesischen Gewaltherrschaft systematisch aus. Das hässliche China, wir nehmen es nicht wahr.«

Artikel vom 13.03.2007