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Dass ich nicht mehr Druck ausgeübt habe? Ja, vielleicht hätte ich das tun sollen. Aber als ich es einmal tat, in der letzten Woche wegen dieses wichtigen Abendessens in London, wie ist es mir da ergangen? Ich stand wie ein Trottel am Bahnhof und wartete drei Züge aus KingÕs Lynn ab, ehe ich mir eingestand, dass du nicht kommen würdest, und dann musste ich auch noch herausfinden, dass du stattdessen mit einem mehr als zwielichtigen Typen durchgebrannt und flugs in die Kiste gesprungen warst. Es sind höchst angenehme Gefühle, durch die man dabei geht, das kann ich dir sagen.« Dann war der Sarkasmus jäh aus seiner Stimme verschwunden, und leise und traurig hatte er gesagt: »Mein Gott, Virginia, ich hätte nie gedacht, dass uns das passiert. Alles, aber nicht das. Nicht ein so furchtbarer, im Grunde banaler und doch am Ende tödlicher Seitensprung!«
Sie hatte nichts erwidert. Was sollte sie sagen? Er war im Recht und sie im Unrecht, und es gab nichts, was sie zu ihrer Verteidigung hervorbringen konnte. Man durfte aus einer Ehe ausbrechen, natürlich, aber nicht so. Nicht indem man den anderen hinterging und betrog. Die meisten, denen das passierte, hatten es nicht verdient, und Frederic Quentin ganz bestimmt nicht.
Irgendwann fragte er: »Und jetzt? Wie geht es weiter?«
Sie sagte nichts, aber ihr Schweigen war sehr beredt.
»Verstehe«, sagte er bitter, »es ist kein Abenteuer gewesen, stimmtÕs? Es ist ernst. Die Sache ist nicht vorbei.«
Sie hasste sich für ihre Feigheit, aber sie wagte nicht, ihn anzusehen. »Nein. Sie ist nicht vorbei.«
»Aha.« Er schwieg einen Moment. »Du wirst verstehen, dass ich nicht vorhabe, geduldig zu warten, bis es irgendwann vorbei ist«, sagte er dann.
»Natürlich nicht. Ich glaube auch nichtÉ« Sie brach ab, biss sich auf die Lippen.
Er wusste, was sie hatte sagen wollen. »Du glaubst nicht, dass es je vorbei sein wird.«
»Nein.«
Er stützte den Kopf in die Hände, in einer Geste, als wolle er sich die Haare raufen. »Virginia, du wirst unterstellen, dass ich Nathan Moor gegenüber bestimmt befangen bin, und das ist sicher richtig, aberÉ verstehst du, ich hasse den Mann, ich könnte ihm den Hals umdrehen, weil er in unsere Ehe eingebrochen ist und weil er irgendetwas mit dir angestellt hat, was dich alles, was zwischen uns war, jetzt in hohem Bogen hinschmeißen lässt, und dochÉ ich weiß, dass er mir vorher schon zuwider war. Vom ersten Moment an. Ich habe ihn schon nicht ausstehen können, da war es noch nicht um meine Objektivität geschehen. Ich empfand ihn als undurchsichtig. Als zwielichtig. IrgendwieÉ unehrlich. Sehr gut aussehend, sicher. Sehr gewinnend in seiner Art. Und dochÉ mir graute vor ihm. Ich hätte gar nicht sagen können, weshalb. Er war mir zutiefst suspekt und unsympathisch.«

S
ie schwieg, wollte nicht sagen, was sie dachte. Sie wusste jetzt, dass sie sich in der ersten Sekunde, da sie ihn sah, in Nathan Moor verliebt hatte. Und auch wenn Liebe vielleicht ein zu großes Wort für jenen ersten Moment war, so hatte sie ihn doch zumindest begehrt, sich nach ihm gesehnt. Sie hatte es sich nicht eingestanden, aber das Gefühl war da gewesen, und sie vermutete, dass auch Frederic dies unterschwellig gespürt hatte. Und dass er deshalb nicht anders gekonnt hatte, als Nathan Moor abzulehnen und zu verabscheuen. Seine Gefühle für diesen Mann waren, ohne dass er es wusste, von Angst und einer furchtbaren Erkenntnis gesteuert worden: An diesen Mann werde ich meine Frau verlieren.
»Ich sagte dir ja schon, er hat nicht ein Buch veröffentlicht«, fuhr Frederic fort, »es stimmt nicht, dass erÉ«
»Ich weiß. Er hat mir das alles erklärt.«
»Ach ja? Und welche Gründe hat er angeführt? Immerhin hat er uns belogen und getäuscht in dieser Sache. Nicht gerade die ganz anständige Art, oder? Aber du scheinst so blind verknallt zu sein, dass du ihm alles nachsiehst!«
»Seine Gründe haben mich überzeugt.«
»Er ist ein Schmarotzer. Und er ist ein bettelarmer Schlucker. Er besitzt buchstäblich nichts mehr auf dieser Welt! Und es ist mehr als fraglich, ob je ein Buch von ihm erscheinen wird. Ob er je Geld verdienen wird. Er hat alles verloren, als sein verdammtes Schiff unterging. Er ist in einer absolut verzweifelten Lage. Ist dir nie die Idee gekommen, dass es auch ganz einfach Geld sein könnte, was er bei dir sucht? Ein Dach über dem Kopf? Eine Existenz?«
»Die Tage mit ihmÉ«
»Ja? Was?«
»Die Tage mit ihm sagen mir einfach etwas anderes.«

F
rederic schloss für einen Moment gequält die Augen. »Und noch mehr vermutlich die Nächte«, flüsterte er.
Virginia blieb stumm.
Es regnete noch immer, als sie schließlich auf die Straße traten. Es war sehr kalt geworden.
»Das ist der kälteste und nasseste September, an den ich mich seit Jahren erinnern kann«, sagte Frederic.
»Dieser September macht traurig«, stimmte Virginia zu.
»Das liegt aber nicht in erster Linie am Wetter«, meinte Frederic.
Sie sprachen nicht mehr, als sie im Auto nach Hause fuhren. Ringsum an den Bäumen färbte sich das Laub bunt und hing triefend und trostlos herunter.

W
o werden Kim, Nathan und ich Weihnachten verbringen?, fragte sich Virginia plötzlich. Über die einfache Frage, unter welchem Dach sie in Zukunft leben würden, hatte sie so konkret noch gar nicht nachgedacht. Was hatte Frederic gesagt? Er besitzt buchstäblich nichts mehr auf dieser Welt!
Sie selbst besaß ebenfalls nicht viel. Das Haus ihrer Eltern in London war längst verkauft, ihre Eltern nach Menorca umgesiedelt. Ihrer Tochter, ihrer Enkelin und dem neuen Lebensgefährten würden sie immer Unterkunft gewähren, aber das war in dem kleinen Häuschen dort keine Lösung auf Dauer. Zudem glaubte Virginia nicht, dass sich Nathan auf der Baleareninsel, auf der es vor allem im Herbst und Winter von alten Menschen nur so wimmelte, besonders wohl fühlen würde. Das Leben im Haus seines verstorbenen Schwiegervaters hatte ihn jahrelang aller Kreativität beraubt. Der betuliche Tagesablauf des etwas spießigen Ehepaars Delaney würde ihn sicherlich kaum mehr inspirieren.
Ich werde das möglichst bald mit ihm besprechen, nahm sie sich vor.

D
as Tor zum Park von Ferndale stand offen. Virginia hoffte, dass Nathan Kim bei Grace abgesetzt hatte und dann verschwunden war, denn es war nicht im Geringsten der Moment, an dem sich die beiden Männer begegnen durften. Sie bremste direkt vor Graces Haustür. »Ich hole nur schnell die Kleine ab«, sagte sie.
Aber da wurde die Tür schon aufgerissen, und Grace kam herausgestürzt.
»Mrs. Quentin, ich warte schon ständig am FensterÉ Haben Sie Kim abgeholt?«
»Nein. Ich hatte dochÉ« Sie verschluckte den Namen, denn nun stieg auch Frederic aus.
»Was ist los?«, fragte er.
»Kim war nicht mehr in der Schule, als ich sie abholen wollte, Sir. Aber ich dachteÉ« Auch Grace wagte es nicht, weiterzusprechen. Unruhig irrten ihre fiebrig glänzenden Augen von einem zum anderen.
Virginia gab sich einen Ruck. Die Situation war unwürdig, sie hatte sie verschuldet, sie musste sie nun auch klären.
»Frederic, es tut mir leid, aber ich hatte Nathan Moor gebeten, Kim um fünf Uhr abzuholen. Ich wollte mich mit dir treffen, Jack ist noch nicht zurück, und Grace ist krank. Daher hielt ich es für das BesteÉ«
Frederics Augen verengten sich, er sagte jedoch nichts.
»Mrs. Quentin, Mr. Moor rief bei mir an«, sagte Grace, erleichtert, dass sie nun auch offen reden durfte. »Er war in Hunstanton und hatte irgendwie Probleme mit dem Wagen. Er sprang nicht an oder soÉ und Sie konnte er nicht erreichen.
Ihr Handy war ausgeschaltet.«
»Das stimmt«, sagte Virginia.
»Er bat mich, Kim abzuholen. Ich habe dann Jack angerufen, aber der steckte im Stau und meinte, er kann vor sieben Uhr nicht hier sein. Also bin ich losgefahren. Ich kam etwas zu spät, weil mir so schwindelig war, alles geht im Moment langsamer bei mir als sonst, undÉ« Graces Stimme schien brechen zu wollen, aber sie fing sich wieder. »Kim war nicht da. Ich habe die ganze Schule abgesucht, aber nichts! Keine Spur!«
Frederic schaute auf seine Uhr. »Gleich halb sieben. Und Kim ist seit fünf Uhr nicht aufgetaucht?«

J
etzt rollten doch die Tränen aus Graces Augen. »Ich hatte gehofft, Mr. Moor hat Sie vielleicht doch noch erreicht. Oder sein Auto ist noch angesprungen, und er hat Kim doch selber abgeholt und nur vergessen, mir das zu sagenÉ«
»Haben Sie in unserem Haus nachgesehen?«, fragte Frederic.
Sie nickte. »Da ist niemand. Aber Mr. Moor würde vielleichtÉ«
Frederic verstand. »Er würde vielleicht nicht ausgerechnet dort auf uns warten. Mit welchem Auto übrigens ist er unterwegs?«
»Mit meinem«, sagte Virginia.
»Verstehe«, sagte Frederic. »Wo ist Livia Moor?«, fügte er hinzu.
»Sie ist abgereist.«
Frederic überlegte. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 31.03.2007