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Aus der Mitte führte eine breite Treppe hinauf zu einer Galerie mit steinerner Brüstung. Von dort gingen zahlreiche Türen in die verschiedenen Klassenzimmer, Büros und Konferenzräume ab.
Die Halle war menschenleer.
Grace hatte erwartet, Kim auf der Treppe sitzend anzutreffen, und sah sich nun suchend um. Nirgendwo konnte sie das kleine Mädchen entdecken.
Stirnrunzelnd wandte sie sich um, spähte durch die Glastür ins Freie. War Kim doch draußen? Unter einem der Bäume vielleicht? Nein, auch dort stand niemand.
Ihr nasser Fuß war eisig kalt, in ihrem Schuh quietschte das Wasser. Grace nieste und umrundete einmal die ganze Halle, stieg dann die Treppe hinauf, wobei sie sich krampfhaft am Geländer festhielt. Ihre Knie zitterten.

V
on irgendwoher klang leise Klavier- und Flötenmusik. Auf gut Glück öffnete Grace ein paar Türen, schaute in leere Klassenzimmer hinein. Nichts. Keine Spur von Kim.
In einem der hinteren Räume stieß sie auf eine Gruppe von zehn Jungen und Mädchen, die unter der Leitung einer gestresst wirkenden jungen Frau mehr schlecht als recht auf ihren Blockflöten herumfiepten. Ein Junge saß am Klavier und schlug ebenso kräftig wie ungekonnt in die Tasten.
»Ja, bitte?«, fragte die Lehrerin genervt, als sie Grace erblickte. Die Kinder ließen erleichtert ihre Instrumente sinken.
Grace nieste wieder. Sie hätte dringend ein Taschentuch gebraucht, konnte aber in ihrer Manteltasche keines finden.
»Entschuldigen Sie bitte, ich wollte hier die Tochter einerÉ einer Bekannten abholen. Ihr Unterricht war um fünf Uhr zu Ende. Leider war ich nicht ganz pünktlich. Nun kann ich sie nirgendwo finden.«
»Also, hier ist sie nicht«, sagte die Lehrerin. »Oder?«
»Nein. Nein, Kim spielt nicht Flöte. Vielleicht kennen Sie sie trotzdem? Kim Quentin.«
Der jungen Frau war anzumerken, dass es ihr schwer fiel, höflich zu bleiben. »Nein, ich kenne sie nicht. Und meines Wissens sind wir mit unserer Flötengruppe die Letzten, die sich heute noch im Haus aufhalten. Außer dem Hausmeister dürfte hier niemand sonst mehr sein.«
»Ich versteheÉ Gibt es hier eine Art Aufenthaltsraum? Irgendwo muss Kim ja auf mich warten. Wir treffen uns sonst draußen, aber bei diesem WetterÉ«
»Unten am Eingang, erste Tür rechts«, sagte der Junge am Klavier, »da ist ein Aufenthaltsraum. Vielleicht sitzt sie da drin.«
»Oh, danke, vielen Dank!«, sagte Grace erleichtert. Sie schloss die Tür, und sogleich setzte dahinter wieder das schiefe, von zahlreichen Misstönen durchsetzte Konzert der Flöten ein.

S
chwerer Job, dachte sie, während sie nach unten eilte, schneller und leichtfüßiger diesmal, denn sie war nun fast sicher, Kim in dem beschriebenen Raum anzutreffen, und diese Gewissheit beflügelte sie. Kein Wunder, dass diese Frau so gereizt ist!
Sie riss die Tür gleich rechts hinter dem Eingang auf und blickte in einen Raum voller Tische und Bänke, die in ungeordneten Gruppen herumstanden. Zweifellos der Aufenthaltsraum.
Er war leer.
Grace seufzte tief vor Enttäuschung. Auch hier keine Spur von Kim.
Inzwischen war halb sechs vorbei. Hatte Kim sich auf den Weg zur Bushaltestelle gemacht, als um fünf Uhr niemand da gewesen war?
Grace war einige Male mit der Kleinen zusammen in dem Bus gefahren, aber nur bei schönem Wetter oder wenn sie aus irgendwelchen Gründen Lust auf einen Spaziergang gehabt hatte. Denn die Ferndale House nächstgelegene Haltestelle lag immer noch eine gute halbe Stunde zu Fuß entfernt, mitten zwischen Wiesen und Feldern. Kim war noch nie allein gefahren. Grace hatte keine Ahnung, ob sie überhaupt Geld dabei hatte.
Ein anderer Gedanke kam ihr: Vielleicht hatte der Deutsche doch noch Mrs. Quentin auf deren Handy erreicht, und diese selbst hatte ihre Tochter um fünf Uhr abgeholt.
Die sind längst gemütlich daheim, und ich irre hier herum, dachte Grace.

T
rotz des Regens umrundete sie noch einmal das ganze Schulgelände, schaute auch in den Toiletten nach, die in einem gesonderten kleinen Gebäude untergebracht waren, und als sie sicher war, dass sich Kim dort tatsächlich nirgends aufhielt, ging sie zu ihrem Auto zurück und stieg ein. Sie sehnte sich danach, endlich den nassen, eiskalten Schuh ausziehen zu können. Ihre schmerzenden Glieder auszustrecken. Vor sich hin zu dösen und nicht nachdenken zu müssen.
Sie startete ihr Auto.
Bestimmt ist Kim daheim, sagte sie sich noch einmal.
Es war zehn vor sechs, als sie losfuhr.
Sie hatte ein ungutes Gefühl.


6
F
rederic und Virginia verließen das Café in der Main Street um kurz nach sechs Uhr. Sie hatten eine gute Stunde dort verbracht, jeder zwei Tassen Kaffee getrunken, einander angeschaut, ein Gespräch zu führen und das Geschehene zu begreifen versucht.
Als er sie am Bahnhof erblickte, hatte Frederic gesagt: »Du solltest mich doch nicht abholen! Ich hatte dirÉ«
»Ich weiß«, hatte sie ihn unterbrochen, »aber ich wollte irgendwo mit dir sprechen, wo uns Kim nicht hören kann.«
»Wie geht es ihr?«
»Besser. Sie wirkte ganz ausgeglichen heute früh.«
»Wer holt sie von der Schule ab?«
»Grace«, log Virginia. Ihm in diesem Moment zu erklären, dass es ihr Liebhaber war, der Frederics Tochter abholte, erschien ihr unmöglich. Eine Notlüge hingegen angesichts der Umstände verzeihlich.

F
rederic kommentierte den Umstand, dass Virginia in seinem Auto gekommen war, nicht; vielleicht, so dachte sie, fiel es ihm gar nicht wirklich auf. Sie war erleichtert, denn so musste sie ihm nicht offenbaren, dass sie ihr Auto an Nathan verliehen hatte.
Im Café hatte lange Zeit keiner von ihnen einen Anfang gefunden. Virginia merkte, mit welch geschärfter Aufmerksamkeit Frederic sie musterte, und ihr war klar, was er sah und wie es auf ihn wirken musste. Trotz der gestrigen Aufregung um Kim, trotz der Sorgen, die sie sich der ganzen Situation wegen machte, sah sie aus wie eine glückliche Frau, das hatte sie im Spiegel festgestellt und nicht ändern können. Rosige Wangen, leuchtende Augen, eine Art inneres Strahlen, das selbst dann auf ihrem Gesicht lag, wenn sie ernst dreinblickte.

D
as, was sie stets so verhärmt und sorgenvoll hatte erscheinen lassen, war wie von Zauberhand weggewischt. Die Lebenslust, für die sie als junge Frau bewundert worden war und die die Männer um sie herum so anziehend gefunden hatten, war dabei, wieder zu erwachen. Das war es, was sie so erstaunt hatte, als sie sich am Morgen im Spiegel gemustert hatte, nach dieser wunderbaren, verzauberten Nacht mit Nathan: Sie sah aus wie die zwanzigjährige Virginia. Da war wieder dieses lebendige, herausfordernde, neugierige Glitzern in ihren Augen. Als hätte es die Jahre zwischen damals und heute nicht gegeben.

I
rgendwann, nachdem er sie lange genug angesehen und dabei abwesend in seiner Kaffeetasse gerührt hatte, hatte sich Frederic vorgebeugt und sehr leise gefragt: »Warum?«
Jede Erklärung konnte ihn nur verletzen.
»Ich weiß es auch nicht genau«, sagte sie, »es ist, als obÉ«
»Ja?«
»Als ob er mich aufweckt nach einem langen Schlaf«, hatte sie, ebenso leise wie er, erwidert und an seinem Gesichtsausdruck erkannt, dass er sich fragte, was, um Himmels willen, sie damit meinte.
Aber vielleicht dämmerte ihm doch etwas, denn nachdem wiederum etliche Minuten verstrichen waren, sagte er: »Ich habe deine Melancholie immer einfach hingenommen. Als einen Teil von dir. Etwas, das unabdingbar zu dir gehörte. Ich wollte sie dir nicht nehmen, weil ich dich in deinem Wesen nicht verändern wollte. Weil ich gar nicht glaubte, das Recht dazu zu haben.«
»Vielleicht hattest du auch Angst.«
»Wovor?«
»Die Frau, die hinter den hohen Bäumen lebte und sich kaum je hervorwagte, war sehr ungefährlich. Meine Melancholie machte mich schwach. Damit auch abhängig. Ich war schutzbedürftig und klein. Vielleicht mochtest du das auch nicht ändern.«

O
h«, seine Stimme war nun etwas schärfer geworden, »jetzt springen wir mitten ins Klischee, oder? Als was siehst du mich? Als Macho, der sich groß und stark fühlt, wenn die Frau neben ihm klein und schwach ist? Sehr schlicht, findest du nicht? Ich habe dich nicht zu der Frau gemacht, die du warst. Ich habe dich nicht nach Ferndale hinter die hohen Bäume verbannt. Im Gegenteil. Ich wollte, dass wir in London wohnen. Ich wollte dich teilhaben lassen an meinem Leben. Ich wollte auch an deinem Leben teilnehmen, wenn du mir nur einmal gesagt hättest, worin es besteht. Aber du hast mir keine Chance gegeben. Was also wirfst du mir vor?«
»Ich werfe dir gar nichts vor.«




(wird fortgesetzt)

Artikel vom 30.03.2007