30.03.2007
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Die Halle war menschenleer.
Grace hatte erwartet, Kim auf der Treppe sitzend anzutreffen, und sah sich nun suchend um. Nirgendwo konnte sie das kleine Mädchen entdecken.
Stirnrunzelnd wandte sie sich um, spähte durch die Glastür ins Freie. War Kim doch draußen? Unter einem der Bäume vielleicht? Nein, auch dort stand niemand.
Ihr nasser Fuß war eisig kalt, in ihrem Schuh quietschte das Wasser. Grace nieste und umrundete einmal die ganze Halle, stieg dann die Treppe hinauf, wobei sie sich krampfhaft am Geländer festhielt. Ihre Knie zitterten.
V
In einem der hinteren Räume stieß sie auf eine Gruppe von zehn Jungen und Mädchen, die unter der Leitung einer gestresst wirkenden jungen Frau mehr schlecht als recht auf ihren Blockflöten herumfiepten. Ein Junge saß am Klavier und schlug ebenso kräftig wie ungekonnt in die Tasten.
»Ja, bitte?«, fragte die Lehrerin genervt, als sie Grace erblickte. Die Kinder ließen erleichtert ihre Instrumente sinken.
Grace nieste wieder. Sie hätte dringend ein Taschentuch gebraucht, konnte aber in ihrer Manteltasche keines finden.
»Entschuldigen Sie bitte, ich wollte hier die Tochter einerÉ einer Bekannten abholen. Ihr Unterricht war um fünf Uhr zu Ende. Leider war ich nicht ganz pünktlich. Nun kann ich sie nirgendwo finden.«
»Also, hier ist sie nicht«, sagte die Lehrerin. »Oder?«
»Nein. Nein, Kim spielt nicht Flöte. Vielleicht kennen Sie sie trotzdem? Kim Quentin.«
Der jungen Frau war anzumerken, dass es ihr schwer fiel, höflich zu bleiben. »Nein, ich kenne sie nicht. Und meines Wissens sind wir mit unserer Flötengruppe die Letzten, die sich heute noch im Haus aufhalten. Außer dem Hausmeister dürfte hier niemand sonst mehr sein.«
»Ich versteheÉ Gibt es hier eine Art Aufenthaltsraum? Irgendwo muss Kim ja auf mich warten. Wir treffen uns sonst draußen, aber bei diesem WetterÉ«
»Unten am Eingang, erste Tür rechts«, sagte der Junge am Klavier, »da ist ein Aufenthaltsraum. Vielleicht sitzt sie da drin.«
»Oh, danke, vielen Dank!«, sagte Grace erleichtert. Sie schloss die Tür, und sogleich setzte dahinter wieder das schiefe, von zahlreichen Misstönen durchsetzte Konzert der Flöten ein.
S
Sie riss die Tür gleich rechts hinter dem Eingang auf und blickte in einen Raum voller Tische und Bänke, die in ungeordneten Gruppen herumstanden. Zweifellos der Aufenthaltsraum.
Er war leer.
Grace seufzte tief vor Enttäuschung. Auch hier keine Spur von Kim.
Inzwischen war halb sechs vorbei. Hatte Kim sich auf den Weg zur Bushaltestelle gemacht, als um fünf Uhr niemand da gewesen war?
Grace war einige Male mit der Kleinen zusammen in dem Bus gefahren, aber nur bei schönem Wetter oder wenn sie aus irgendwelchen Gründen Lust auf einen Spaziergang gehabt hatte. Denn die Ferndale House nächstgelegene Haltestelle lag immer noch eine gute halbe Stunde zu Fuß entfernt, mitten zwischen Wiesen und Feldern. Kim war noch nie allein gefahren. Grace hatte keine Ahnung, ob sie überhaupt Geld dabei hatte.
Ein anderer Gedanke kam ihr: Vielleicht hatte der Deutsche doch noch Mrs. Quentin auf deren Handy erreicht, und diese selbst hatte ihre Tochter um fünf Uhr abgeholt.
Die sind längst gemütlich daheim, und ich irre hier herum, dachte Grace.
T
Sie startete ihr Auto.
Bestimmt ist Kim daheim, sagte sie sich noch einmal.
Es war zehn vor sechs, als sie losfuhr.
Sie hatte ein ungutes Gefühl.
6
F
Als er sie am Bahnhof erblickte, hatte Frederic gesagt: »Du solltest mich doch nicht abholen! Ich hatte dirÉ«
»Ich weiß«, hatte sie ihn unterbrochen, »aber ich wollte irgendwo mit dir sprechen, wo uns Kim nicht hören kann.«
»Wie geht es ihr?«
»Besser. Sie wirkte ganz ausgeglichen heute früh.«
»Wer holt sie von der Schule ab?«
»Grace«, log Virginia. Ihm in diesem Moment zu erklären, dass es ihr Liebhaber war, der Frederics Tochter abholte, erschien ihr unmöglich. Eine Notlüge hingegen angesichts der Umstände verzeihlich.
F
Im Café hatte lange Zeit keiner von ihnen einen Anfang gefunden. Virginia merkte, mit welch geschärfter Aufmerksamkeit Frederic sie musterte, und ihr war klar, was er sah und wie es auf ihn wirken musste. Trotz der gestrigen Aufregung um Kim, trotz der Sorgen, die sie sich der ganzen Situation wegen machte, sah sie aus wie eine glückliche Frau, das hatte sie im Spiegel festgestellt und nicht ändern können. Rosige Wangen, leuchtende Augen, eine Art inneres Strahlen, das selbst dann auf ihrem Gesicht lag, wenn sie ernst dreinblickte.
D
I
Jede Erklärung konnte ihn nur verletzen.
»Ich weiß es auch nicht genau«, sagte sie, »es ist, als obÉ«
»Ja?«
»Als ob er mich aufweckt nach einem langen Schlaf«, hatte sie, ebenso leise wie er, erwidert und an seinem Gesichtsausdruck erkannt, dass er sich fragte, was, um Himmels willen, sie damit meinte.
Aber vielleicht dämmerte ihm doch etwas, denn nachdem wiederum etliche Minuten verstrichen waren, sagte er: »Ich habe deine Melancholie immer einfach hingenommen. Als einen Teil von dir. Etwas, das unabdingbar zu dir gehörte. Ich wollte sie dir nicht nehmen, weil ich dich in deinem Wesen nicht verändern wollte. Weil ich gar nicht glaubte, das Recht dazu zu haben.«
»Vielleicht hattest du auch Angst.«
»Wovor?«
»Die Frau, die hinter den hohen Bäumen lebte und sich kaum je hervorwagte, war sehr ungefährlich. Meine Melancholie machte mich schwach. Damit auch abhängig. Ich war schutzbedürftig und klein. Vielleicht mochtest du das auch nicht ändern.«
O
»Ich werfe dir gar nichts vor.«
Artikel vom 30.03.2007