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Grace, die gern tratschte, hätte sich zu gern mit ihren Freundinnen über den Fall ausgetauscht, aber abgesehen davon, dass sie sich zu schlecht fühlte, gab es einen weit gewichtigeren Hinderungsgrund: Es gehörte zu Graces eisernen Prinzipien, dass sie über ihre Familie nicht klatschte. Da konnte sein, was wollte, über ihre Lippen würde kein Sterbenswörtchen kommen. Vom möglichen Ende des glücklichen Ehepaares Frederic und Virginia Quentin würden die Menschen in KingÕs Lynn vielleicht durch die Regenbogenpresse erfahren, nichts jedoch von Grace Walker.
Es war vier Uhr. Grace stand im Bademantel am Fenster und blickte hinaus. Es regnete noch immer. Was für ein schrecklicher September das war in diesem Jahr! Keine spätsommerlichen Tage mit klarer, warmer Luft, blauem Himmel und leuchtend bunten Gärten. Nur Regen und Nebel. Novemberstimmung. Kein Wunder, dass sie sich diese heftige Erkältung zugezogen hatte! Grace hasste es, sich schwach und elend zu fühlen; in ihrer zupackenden, energischen Art fand sie kaum etwas so ärgerlich, wie hilflos und matt in der Ecke liegen und die Stunden des Tages vertrödeln zu müssen. Sie bewegte sich gern, liebte es, das Haus und den Garten in Ordnung zu halten, schöne Dinge zu kochen und zu backen, die Wäsche säuberlich zu bügeln und in die mit kleinen Lavendelsträußen versehenen Schubfächer der Schränke zu räumen. Sie sorgte gern für andere, kümmerte sich. Sie hätte es sich gut vorstellen können, mindestens sechs Kinder zu haben und ihnen eine fürsorgliche Mutter zu sein, aber am Anfang ihrer Ehe war das Geld immer so knapp und Jack ständig mit dem Lastwagen unterwegs gewesen. Sie hatten auf günstigere Lebensumstände gewartet, aber als sie dann tatsächlich günstiger wurden, war Grace schon Mitte vierzig gewesen und nicht mehr schwanger geworden. Oft dachte sie, dass ihre Kinderlosigkeit immer wie ein Schatten über ihrem ansonsten glücklichen Leben liegen würde. Wie gut, dass sie wenigstens eine Art Großmutter für die kleine Kim sein durfte!
Doch während sie hinaus in den verregneten Tag starrte und sich zum hundertsten Mal ihre ständig laufende Nase putzte, dachte sie plötzlich: Ob wohl alles so bleibt, wie es ist? Wenn sich Mr. und Mrs. Quentin trennen und Mrs. Quentin am Ende mit diesem Schönling auf und davon geht - dann nimmt sie Kim bestimmt mit! Das Kind bleibt doch immer bei der Mutter. Und Mr. Quentin verkauft dann vielleicht Ferndale House, er ist ja doch immer nur in London, was soll er dann mit einem Landsitz voll trauriger Erinnerungen?
Ihr wurde so schwer ums Herz, dass sie sich rasch auf das Sofa setzen und tief durchatmen musste. Jack meinte immer, man solle sich nicht wegen etwas aufregen, das noch gar nicht geschehen war.
»Am Ende kommt es ganz anders, und du hast jede Menge Kraft vergeudet«, pflegte er zu sagen. Oft hatte er damit Recht behalten.

V
ielleicht sehe ich Gespenster, versuchte sich Grace zu trösten, aber ihr Herz ging trotzdem schneller, und am ganzen Körper brach ihr der Schweiß aus.
Mitten in diese trüben Gedanken hinein klingelte das Telefon.
Sie hoffte, es wäre Jack, der ihr sagen würde, er sei jeden Moment zu Hause; dann könnte sie ihm von ihren Ängsten berichten, und sicher fiele ihm eine beruhigende Antwort ein.
»Ja?«, sagte sie erwartungsvoll.
Es war jedoch der Deutsche, sie hörte es sogleich an seinem Akzent.
»Mrs. Walker, ich bin es, Nathan Moor. DerÉ Gast von Mrs. Quentin.«
»Ich weiß, wer Sie sind«, sagte Grace kühl.
»Ich bin hier in einer Telefonzelle in Hunstanton. Mein Wagen springt nicht an.«
Grace fiel keine schlauere Erwiderung ein als: »Was machen Sie denn bei diesem Wetter in Hunstanton?«
Er klang ein wenig ungeduldig. »Manche Leute gehen auch im Regen gern am Meer spazieren. Hören Sie, Mrs. Walker, das Problem ist, dass ich VirginiaÉ dass ich Mrs. Quentin versprochen habe, Kim um fünf Uhr von der Schule abzuholen. Wie es aussieht, kann es aber länger dauern, bis ich das Auto in Gang bringe. Ich habe versucht, Mrs. Quentin telefonisch zu erreichen, aber sie geht nicht an den Apparat. Und bei ihrem Handy springt sofort die Mailbox an.«
»Mrs. Quentin ist vor einer halben Stunde hier vorbeigefahren. Soviel ich weiß, will sie ihren Ehemann«, Grace legte nachdrückliche Betonung auf das Wort Ehemann, »am Bahnhof abholen.«
»Mist!«, sagte Nathan.
»Offenbar hat sie ihr Handy nicht eingeschaltet«, sagte Grace, die es ein wenig genoss, Nathan Moor hilflos und von seiner Geliebten abgeschnitten zu erleben. Obwohl sie natürlich ahnte, worauf dies nun hinauslief: Blieb Virginia Quentin unerreichbar, würde sie, Grace, Kim abholen müssen, und wieder war es nichts mit einem Tag im Bett, um sich auszukurieren.
Prompt kam es auch schon. »Es ist mir wirklich unangenehm, Sie bitten zu müssen, Mrs. Walker«, sagte Nathan, »aber könnten Sie vielleicht Kim abholen? Ich weiß, Sie sind krank, aberÉ«
»Was ist denn mit Ihrer Frau?«, fragte Grace.
Eine kurze Pause.
»Meine Frau ist abgereist«, antwortete Nathan dann.
»Oh«, sagte Grace.
»Mein Geld ist gleich aus«, fuhr Nathan fort, »Was ist nun? Können SieÉ?«

M
it so viel Verachtung in der Stimme, wie es ihr nur möglich war, sagte Grace: »Ich werde Kim abholen. Es ist selbstverständlich, dass ich das Kind nicht im Stich lasse.« Und mit diesen Worten legte sie den Hörer auf.
Livia Moor war also schon abgereist. Die Lage spitzte sich zu.
Ruhig bleiben, befahl sich Grace, ganz ruhig bleiben.
Aber ihr Herz raste, und auf einmal war ihr wieder genauso schwindelig wie am Vortag. Sie hätte ins Bett kriechen und weinen mögen, aber ihr blieb nichts übrig, als jetzt zu funktionieren.
Sie rief Jack auf seinem Handy an und schilderte ihm die Situation, aber sie erwischte ihn im dicksten Rush-Hour-Stau auf der Umgehung Londons steckend, und er meinte, kaum vor sieben Uhr zurück in KingÕs Lynn sein zu können.
Es war wirklich zum Heulen.
»Dann muss ich doch raus und Kim abholen «, sagte Grace.
Jack polterte natürlich wieder los. »Du bist krank, du gehörst ins Bett! Wer ist denn dieser Typ, dem Mrs. Quentin ihr Kind anvertrauen wollte? Und wieso ist sie nicht erreichbar?«
»Das ist eine längere Geschichte. Ich erzähle sie dir später. Jetzt muss ich mich anziehen«, sagte Grace, legte den Hörer auf und brach in Tränen aus.

5
Grace hatte es nicht bis fünf Uhr geschafft, aber um genau vierzehn Minuten nach fünf, wie sie mit einem Blick auf ihre Armbanduhr feststellte, fuhr sie an der Schule vor. Sie ärgerte sich, dass sie nicht pünktlich war, denn für gewöhnlich war absolute Zuverlässigkeit ihre herausragende Tugend. Aber sie hatte nicht geahnt, wie schwer ihr jede Bewegung fallen, wie lange sie allein zum Anziehen brauchen würde. Als sie sich hinuntergebeugt hatte, um sich die Schuhe zuzubinden, war ihr am ganzen Körper der Schweiß ausgebrochen, und es war ihr so schwindelig geworden, dass sie sich wieder hatte aufrichten und minutenlang abwarten müssen, ehe sie den nächsten Anlauf wagte.
»Ich bin richtig krank«, jammerte sie leise, »richtig krank. Ausgerechnet jetzt!«

D
er Regen war in leichtes Nieseln übergegangen und hüllte die Welt in graue Trostlosigkeit. Das rote Backsteingebäude, in dem die Schule untergebracht war, schien still und verlassen, auf dem geteerten Schulhof hatten sich viele Pfützen gebildet, auf der Mauer am Eingang saß ein kleiner Spatz und blickte etwas trübsinnig in die Welt.

G
enau auf dieser Mauer saß auch Kim für gewöhnlich, wenn sie und Grace sich an der Schule trafen und Kim früher als erwartet herausgekommen war. Heute konnte Grace außer dem Spatz niemanden entdecken, was ihr aber angesichts des Regens nicht verwunderlich schien.
Sie ist drinnen, natürlich, dachte sie müde. Nun musste sie einen Parkplatz suchen und das Auto verlassen, und das, obwohl das Fieber sie am ganzen Körper zittern ließ. Ihr blieb nichts erspart an diesem Tag. Mehr denn je sehnte sie sich nach ihrem Bett, einer Tasse heißem Tee und Ruhe, viel Ruhe.
Sie stellte den Wagen einfach im Parkverbot direkt vor der Schule ab, stieg aus und eilte, so schnell sie konnte, über den Hof. Sie hatte vergessen, einen Schirm mitzunehmen. In ihrer Hast trat sie mitten in eine Pfütze und merkte gleich darauf, wie sich ihr Schuh und ihr Strumpf mit kaltem Wasser vollsogen.
»Scheiße«, murmelte sie inbrünstig.

E
ndlich hatte sie das schützende Vordach erreicht und zog die große gläserne Schwingtür auf, die in das hohe Treppenhaus führte. Rechts und links des Eingangs waren Tafeln und Pinnwände angebracht, auf denen sich eine Vielzahl Zettel und Inschriften befanden: Informationen, Aufrufe, Nachrichten aller Art. Man ging drei Stufen hinauf und stand in der riesigen Halle, in der auch Versammlungen abgehalten oder Vorträge veranstaltet wurden. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 29.03.2007