29.03.2007
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Es war vier Uhr. Grace stand im Bademantel am Fenster und blickte hinaus. Es regnete noch immer. Was für ein schrecklicher September das war in diesem Jahr! Keine spätsommerlichen Tage mit klarer, warmer Luft, blauem Himmel und leuchtend bunten Gärten. Nur Regen und Nebel. Novemberstimmung. Kein Wunder, dass sie sich diese heftige Erkältung zugezogen hatte! Grace hasste es, sich schwach und elend zu fühlen; in ihrer zupackenden, energischen Art fand sie kaum etwas so ärgerlich, wie hilflos und matt in der Ecke liegen und die Stunden des Tages vertrödeln zu müssen. Sie bewegte sich gern, liebte es, das Haus und den Garten in Ordnung zu halten, schöne Dinge zu kochen und zu backen, die Wäsche säuberlich zu bügeln und in die mit kleinen Lavendelsträußen versehenen Schubfächer der Schränke zu räumen. Sie sorgte gern für andere, kümmerte sich. Sie hätte es sich gut vorstellen können, mindestens sechs Kinder zu haben und ihnen eine fürsorgliche Mutter zu sein, aber am Anfang ihrer Ehe war das Geld immer so knapp und Jack ständig mit dem Lastwagen unterwegs gewesen. Sie hatten auf günstigere Lebensumstände gewartet, aber als sie dann tatsächlich günstiger wurden, war Grace schon Mitte vierzig gewesen und nicht mehr schwanger geworden. Oft dachte sie, dass ihre Kinderlosigkeit immer wie ein Schatten über ihrem ansonsten glücklichen Leben liegen würde. Wie gut, dass sie wenigstens eine Art Großmutter für die kleine Kim sein durfte!
Doch während sie hinaus in den verregneten Tag starrte und sich zum hundertsten Mal ihre ständig laufende Nase putzte, dachte sie plötzlich: Ob wohl alles so bleibt, wie es ist? Wenn sich Mr. und Mrs. Quentin trennen und Mrs. Quentin am Ende mit diesem Schönling auf und davon geht - dann nimmt sie Kim bestimmt mit! Das Kind bleibt doch immer bei der Mutter. Und Mr. Quentin verkauft dann vielleicht Ferndale House, er ist ja doch immer nur in London, was soll er dann mit einem Landsitz voll trauriger Erinnerungen?
Ihr wurde so schwer ums Herz, dass sie sich rasch auf das Sofa setzen und tief durchatmen musste. Jack meinte immer, man solle sich nicht wegen etwas aufregen, das noch gar nicht geschehen war.
»Am Ende kommt es ganz anders, und du hast jede Menge Kraft vergeudet«, pflegte er zu sagen. Oft hatte er damit Recht behalten.
V
Mitten in diese trüben Gedanken hinein klingelte das Telefon.
Sie hoffte, es wäre Jack, der ihr sagen würde, er sei jeden Moment zu Hause; dann könnte sie ihm von ihren Ängsten berichten, und sicher fiele ihm eine beruhigende Antwort ein.
»Ja?«, sagte sie erwartungsvoll.
Es war jedoch der Deutsche, sie hörte es sogleich an seinem Akzent.
»Mrs. Walker, ich bin es, Nathan Moor. DerÉ Gast von Mrs. Quentin.«
»Ich weiß, wer Sie sind«, sagte Grace kühl.
»Ich bin hier in einer Telefonzelle in Hunstanton. Mein Wagen springt nicht an.«
Grace fiel keine schlauere Erwiderung ein als: »Was machen Sie denn bei diesem Wetter in Hunstanton?«
Er klang ein wenig ungeduldig. »Manche Leute gehen auch im Regen gern am Meer spazieren. Hören Sie, Mrs. Walker, das Problem ist, dass ich VirginiaÉ dass ich Mrs. Quentin versprochen habe, Kim um fünf Uhr von der Schule abzuholen. Wie es aussieht, kann es aber länger dauern, bis ich das Auto in Gang bringe. Ich habe versucht, Mrs. Quentin telefonisch zu erreichen, aber sie geht nicht an den Apparat. Und bei ihrem Handy springt sofort die Mailbox an.«
»Mrs. Quentin ist vor einer halben Stunde hier vorbeigefahren. Soviel ich weiß, will sie ihren Ehemann«, Grace legte nachdrückliche Betonung auf das Wort Ehemann, »am Bahnhof abholen.«
»Mist!«, sagte Nathan.
»Offenbar hat sie ihr Handy nicht eingeschaltet«, sagte Grace, die es ein wenig genoss, Nathan Moor hilflos und von seiner Geliebten abgeschnitten zu erleben. Obwohl sie natürlich ahnte, worauf dies nun hinauslief: Blieb Virginia Quentin unerreichbar, würde sie, Grace, Kim abholen müssen, und wieder war es nichts mit einem Tag im Bett, um sich auszukurieren.
Prompt kam es auch schon. »Es ist mir wirklich unangenehm, Sie bitten zu müssen, Mrs. Walker«, sagte Nathan, »aber könnten Sie vielleicht Kim abholen? Ich weiß, Sie sind krank, aberÉ«
»Was ist denn mit Ihrer Frau?«, fragte Grace.
Eine kurze Pause.
»Meine Frau ist abgereist«, antwortete Nathan dann.
»Oh«, sagte Grace.
»Mein Geld ist gleich aus«, fuhr Nathan fort, »Was ist nun? Können SieÉ?«
M
Livia Moor war also schon abgereist. Die Lage spitzte sich zu.
Ruhig bleiben, befahl sich Grace, ganz ruhig bleiben.
Aber ihr Herz raste, und auf einmal war ihr wieder genauso schwindelig wie am Vortag. Sie hätte ins Bett kriechen und weinen mögen, aber ihr blieb nichts übrig, als jetzt zu funktionieren.
Sie rief Jack auf seinem Handy an und schilderte ihm die Situation, aber sie erwischte ihn im dicksten Rush-Hour-Stau auf der Umgehung Londons steckend, und er meinte, kaum vor sieben Uhr zurück in KingÕs Lynn sein zu können.
Es war wirklich zum Heulen.
»Dann muss ich doch raus und Kim abholen «, sagte Grace.
Jack polterte natürlich wieder los. »Du bist krank, du gehörst ins Bett! Wer ist denn dieser Typ, dem Mrs. Quentin ihr Kind anvertrauen wollte? Und wieso ist sie nicht erreichbar?«
»Das ist eine längere Geschichte. Ich erzähle sie dir später. Jetzt muss ich mich anziehen«, sagte Grace, legte den Hörer auf und brach in Tränen aus.
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»Ich bin richtig krank«, jammerte sie leise, »richtig krank. Ausgerechnet jetzt!«
D
G
Sie ist drinnen, natürlich, dachte sie müde. Nun musste sie einen Parkplatz suchen und das Auto verlassen, und das, obwohl das Fieber sie am ganzen Körper zittern ließ. Ihr blieb nichts erspart an diesem Tag. Mehr denn je sehnte sie sich nach ihrem Bett, einer Tasse heißem Tee und Ruhe, viel Ruhe.
Sie stellte den Wagen einfach im Parkverbot direkt vor der Schule ab, stieg aus und eilte, so schnell sie konnte, über den Hof. Sie hatte vergessen, einen Schirm mitzunehmen. In ihrer Hast trat sie mitten in eine Pfütze und merkte gleich darauf, wie sich ihr Schuh und ihr Strumpf mit kaltem Wasser vollsogen.
»Scheiße«, murmelte sie inbrünstig.
E
Artikel vom 29.03.2007