21.03.2007 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 


Es gab immer wieder Termine, die wir uns setzten. Es gab aber auch immer wieder Gründe, geplante Schritte nicht zu tun. Wir warten bis nach Weihnachten. Wir warten noch seinen nächsten Geburtstag ab. Lass ihn den Sommer noch hier verleben. Lass ihn nicht gerade im Herbst in ein Heim ziehen, da ist alles so grau. Verstehst du? Wir lebten zwölf Jahre lang in der Erwartung, dass er jetzt gleich umsiedeln würde. Ich glaube, wir merkten kaum, dass es mit jedem Jahr unwahrscheinlicher wurde, dass er es wirklich tat.
Und ich lief durch diese kleine Stadt wie ein Tiger durch seinen Käfig. Zehn Schritte in die eine Richtung, zehn Schritte in die andere. Ich wusste, dass mich alle Welt für einen Schmarotzer hielt, während Livia als Heilige galt. Wenn ich mich in das einzige Café am Platz setzte, um Notizen zu machen, wurde ich von fettleibigen Hausfrauen angestarrt, die mit einem Kopftuch über ihren Lockenwicklern zum Brotkaufen kamen. Wollte ich abends allein sein und im örtlichen Gasthof zu Abend essen, tagte dort gleichzeitig der Schützenverein oder der Mütterverein. Irgendjemand sprach mich todsicher darauf an, dass unser Gehsteig nicht sauber gefegt war oder dass irgendein blöder Busch aus unserem Garten zum Nachbarn wucherte. Es wurde feindselig registriert, dass ich weder am samstäglichen Männerstammtisch teilnahm noch mich breitschlagen ließ, bei Straßenfesten Würstchen zu grillen oder das Sackhüpfen der Schulkinder zu moderieren. Eigentlich tat ich niemandem etwas. Aber ich war ein Individualist, und das galt dort als schlimmstes Verbrechen. Irgendwann hätte ich am liebsten dieses alte, hässliche Haus meines Schwiegervaters nicht mehr verlassen. Aber dann musste ich ständig in seine böse Fresse schauen, und das war auch unerträglich. Es gab keinen Ort, an dem ich mich gut fühlte. An dem ich Frieden empfunden hätte.
Es gab somit keinen Ort, an dem ich schreiben konnte.
Natürlich spielte ich immer wieder mit dem Gedanken, einfach abzuhauen. Oder Livia ein Ultimatum zu stellen. Ihr zu sagen, dass sie sich bis zu irgendeinem Termin entscheiden solle zu gehen, dass ich andernfalls allein gehen würde. Aber es blieb bei den Überlegungen. Denn letztlich wusste ich genau, wie das ausgehen würde: Sie würde nicht mit mir kommen. Sie würde bei ihrem Vater bleiben, weil sie nicht in der Lage wäre, sich dem Gefühl der Verpflichtung zu entziehen. Und ich würde dann irgendwo allein sitzen und von den Bildern verfolgt werden. Wie sie von ihm schikaniert wurde. Wie sie sich abhetzte und abmühte und dennoch nie seine Zustimmung errang. Und mit vielen Verrichtungen auch kräftemäßig völlig überfordert war.

O
b ich sie noch liebte, nachdem ein paar Jahre vergangen waren? Die Umstände bildeten nicht gerade einen guten Nährboden für das Gedeihen oder das Pflegen und Bewahren von Gefühlen. Ich war frustriert, oft wütend, hatte den Eindruck, geradewegs in eine Falle marschiert zu sein, aus der ich mich nicht mehr zu befreien vermochte. Es machte mich verrückt, kein eigenes Geld zu verdienen. Ich lebte von meinem Schwiegervater, was mir teilweise gerecht erschien, weil ich viele Arbeiten am Haus und im Garten verrichtete und auch zur Stelle war, wenn er zum Arzt gebracht werden musste oder eine Spazierfahrt unternehmen wollte. Aber es war nicht das Gleiche, als ginge ich einem Beruf nach und erhielte ein regelmäßiges Gehalt. Außerdem gab mir der Alte immer das Gefühl, mich auf seine Kosten durchzuschnorren.
Irgendwie, unwillkürlich, gab ich Livia die Schuld an der Misere. Vom Verstand her war mir klar, dass sie da auch in etwas hineingerutscht war, was sie nicht gewollt hatte, aber immer wieder kam mir auch die Überlegung, dass ich in dem ganzen Schlamassel nicht stecken würde, hätte ich sie niemals kennen gelernt. Und da war der Schritt nicht weit hin zu dem Gedanken: Wäre ich ihr doch nur nie begegnetÉ

A
ußerdem verlor ich immer mehr die Achtung vor ihr. Wer war sie? Eine immer grauer, dünner, blasser werdende, verhuschte Person, die sich von einem alten Mann tyrannisieren ließ. Ihre Unterwürfigkeit machte mich ganz rasend. Warum sagte sie ihrem Vater nicht einmal die Meinung? Brüllte ihn an? Machte ihm klar, wie jämmerlich er dran wäre, wenn sie sich plötzlich umdrehte und ginge?
Aber der Typ ist sie nicht. War sie nie, wird sie nie sein.
Und so saßen wir dort, und die Jahre vergingen, und schließlich, im letzten Jahr, lag der Alte eines Morgens tot in seinem Bett, und ich konnte es zunächst kaum fassen. Aber er war wirklich gegangen, und wir waren frei.
Ich weiß, dass Livia keine Lust hatte, auf diese Weltumsegelung zu gehen. Und vielleicht war es von mir nicht richtig, sie deswegen unter Druck zu setzen. Aber, verdammt, ich musste eine Chance haben, mich ganz und gar von den Ketten zu befreien! Ich konnte nicht einfach das Haus verkaufen, in eine andere Stadt ziehen, die furchtbaren Jahre abhaken und von vorn durchstarten, als wäre nichts gewesen. Ich musste alles hinter mir lassen. Mein Land, meine Bekannten, meine Bürgerlichkeit. Ich wollte auf einem Schiff durch die Wellen pflügen, über mir nur den Himmel, rund um mich nur das Wasser, ich wollte die salzige Gischt auf meinen Lippen schmecken und die Schreie der Möwen hören. Ich wollte andere Länder sehen, andere Menschen treffen.
Ich wollte endlich keine Gewichte mehr an meinen Füßen spüren.
Ich wollte mein Buch schreiben.

E
s ist tragisch ausgegangen, wie du weißt. Ich kam bis Skye. Dann sank mein Schiff und damit alles, was ich hatte. Ich bin dreiundvierzig Jahre alt und besitze nichts mehr. Absolut nichts. Und die ganze Zeit frage ich mich: Ist das nicht die wirkliche, die große Freiheit? Nichts mehr zu verlieren zu haben, an nichts mehr zu hängen? Ist es die Freiheit, von der ich zwölf Jahre lang geträumt habe?
Oder bin ich in Wahrheit abhängiger und unfreier als je zuvor? Ein Gestrandeter, ein Gescheiterter? Man kann schöne Worte finden, um meine Situation zu beschreiben, und man kann schreckliche Worte finden. Vielleicht treffen beide nicht die ganze Wahrheit. Vielleicht ist diese Wahrheit sehr schillernd, widersprüchlich und vielschichtig. An guten Tagen denke ich, dass ich ein beneidenswerter Mann bin. An schlechten Tagen wünsche ich mir, ich könnte endlich aus diesem Albtraum erwachen.
Aber da ist noch etwas. Ich sage es am Ende, aber es ist sehr wichtig. Es rückt alle Dinge in ein anderes Licht.
Als ich vor Skye unterging, bist du in mein Leben getreten. Ich musste alles verlieren, um dir zu begegnen. Das ist das wirklich Besondere an meiner Situation. Es macht aus einem Schiffsunglück ein Wunder.
Ich habe dir gesagt, dass es gute und schlechte Tage für mich gibt.
Seit dem letzten Wochenende glaube ich, dass die schlechten vorbei sind.«

6
Um Viertel vor vier begriff Janie, dass der nette Mann schon wieder nicht kommen würde. Sie hatte sich nicht mehr in das Schreibwarengeschäft hineingetraut, aber sie hatte rasch durch die Scheiben geblinzelt und gesehen, dass der Laden leer war. Nur der Inhaber hing gelangweilt hinter seiner Theke herum, blätterte in einer Zeitschrift und gähnte ohne Unterlass.
Dann hatte sich Janie auf der anderen Straßenseite postiert, wo sich ein Maklerbüro befand. Im Schaufenster hingen die Fotos verschiedener Häuser in der Gegend, und Janie tat so, als studiere sie angelegentlich, was dort geschrieben stand, und betrachte staunend die bunten Bilder. Aus den Augenwinkeln konnte sie die Tür zum Schreibwarenladen beobachten. Sie war um Viertel vor drei da gewesen, und bis um Viertel vor vier waren nur drei Menschen hineingegangen und nach ziemlich kurzer Zeit wieder herausgekommen. Eine alte Dame, die sich beim Gehen auf einen Stock stützte. Ein junges Mädchen mit schwarzen Haaren, in die sie gelbe Streifen eingefärbt hatte. Ein junger Mann in grauem Anzug mit roter Krawatte.
Das waren alle. Janies Freund war nicht dabei.
Es war zum Heulen. Er hatte es sich anders überlegt, ihn hatte ihre Unzuverlässigkeit geärgert. Vielleicht hatte er ein anderes kleines Mädchen kennen gelernt, dem er jetzt den Geburtstag ausrichtete. Einem, das nicht gleich bei der ersten Verabredung weggeblieben war.
Janie schaute auf ihre Armbanduhr. Es war eine alte Uhr von Mum, sie hatte sie ihr im letzten Jahr zu Weihnachten geschenkt. Janie war stolz, sie zu besitzen.
Zehn nach vier. Sie konnte eigentlich nach Hause gehen.
Die Tür des Maklerbüros öffnete sich, und eine sehr elegante Dame im nachtblauen Hosenanzug schaute heraus.
»Na, junge Frau, möchten Sie ein Haus kaufen?«, fragte sie spöttisch. »Oder was ist so schrecklich interessant an unserem Schaufenster?«
Janie zuckte zusammen. »IchÉichÉ«, stotterte sie, »ich finde die Bilder so schön.«
»Na ja, aber du schaust sie nun schon seit über einer Stunde an. Ich denke, langsam dürftest du sie auswendig kennen. Hast du kein Zuhause?«
Janie erschrak. Die Dame begann sich zu sehr für sie zu interessieren. Ob sie ihr ansah, dass sie gerade den Sportunterricht schwänzte?
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 21.03.2007