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Er sah sie an. Sein Blick war weich. »Es ist nicht einfach, dir meine Situation der letzten Jahre zu schildern«, sagte er, »aber wir haben einander Ehrlichkeit versprochen, und ich möchte die Dinge so formulieren, dass du wirklich begreifst, wie sie zusammenhängen.«
Sie atmete tief. Sie hatte geglaubt, er wolle die kaum begonnene Beziehung aufkündigen. Wegen Frederic. Wegen Livia.
Wegen all der unwägbaren Probleme, die auf sie zukommen würden.
»Es stimmt, nicht wahr?«, fragte sie. »Du hast noch nie ein Buch veröffentlicht?«
Er nickte. »Das ist richtig. Richtig ist aber auch, dass ich seit Jahren schreibe. Dass ich jedenfalls zu schreiben versuche.«
»Was hat daran nicht funktioniert?«
Er starrte an ihr vorbei in die schon in erstem Gelb getönten Blätter des dichten Buschwerks um den kleinen Spielplatz herum.
»Alles«, sagte er, »oder nichts. Wie man es nimmt. Nichts hat funktioniert.«
»Lag es an den Ideen? An der Umsetzung?« Sie überlegte, wollte etwas sagen, das ihm zeigte, wie sehr sie ihn verstand. Aber letztlich hatte sie keine Ahnung, wie ein Schriftsteller lebte und arbeitete und welche Probleme seinen Schaffensprozess begleiten konnten.
»Es lag wohl an der Umsetzung«, sagte er, »und dies wiederum hing mit dem Leben zusammen, das ich führte. Es war ein Leben, das ich als tödlich empfand - als eng, eingeschränkt, lähmend. Manchmal glaubte ich, keine Luft zu bekommen, dachte, ich müsste buchstäblich ersticken. Ich setzte mich an meinen Schreibtisch, starrte auf den Bildschirm meines Computers und fühlte nichts als Leere in mir. Es war gnadenlos. Es war entsetzlich.«
»Das kann ich verstehen«, sagte Virginia. Sie konnte es wirklich verstehen. Zögernd streckte sie die Hand aus, berührte sacht seinen Arm.
»Was war so lähmend? Was hat dich erstickt?«
Er lehnte sich zurück. Plötzlich sah er müde aus und grau unter seiner Sonnenbräune. Grau wie der Himmel über ihnen, welk wie das Laub, das regennass und schwer an den Ästen hing. Sie hatte ihn immer stark und strahlend, sehr selbstbewusst und zuversichtlich erlebt. Auf einmal erblickte sie eine andere Seite. Die Seite, die gelitten hatte. Die Seite, die er offenbar perfekt zu verbergen gelernt hatte. Seine Verletzlichkeit rührte sie, und sie hätte ihm das gern gesagt, doch ein Instinkt hielt sie zurück. Sie ahnte, dass er derlei Worte von ihr nicht hören wollte.
»Wo soll ich anfangen?«, fragte er.


5
Stell dir eine Kleinstadt in Deutschland vor. Die kleinste, spießigste, provinziellste Kleinstadt, die du dir ausmalen kannst. Jeder kennt jeden. Jedem ist es ganz wichtig, was die anderen von ihm denken. Man schaut ganz genau, wer den Gehsteig vor seinem Haus nicht ordentlich fegt oder seine Gardinen nicht regelmäßig wäscht. Oder die Büsche am Gartenzaun nicht ordentlich zurückschneidet! Zu weit herauswuchernde Zweige können dazu führen, dass eine Bürgerinitiative ins Leben gerufen wird.
Leider ist es nicht übertrieben, was ich erzähle.
Ich lernte Livia an der Uni kennen. Heute - ganz ehrlich - frage ich mich, weshalb ich mich in sie verliebt habe. Ich glaube, etwas an ihrer stillen, verschlossenen Art reizte mich. Ich witterte etwas dahinter, das ich gern entdecken wollte. Sehr spät erst merkte ich, dass da gar nichts war. Oder vielleicht war ich einfach nicht geeignet, es zu entdecken. Das mag natürlich sein.
Auf jeden Fall wurden wir ein Paar. Ich jobbte für die Hochschulzeitung, veröffentlichte regelmäßig Artikel. Die Idee zu einem großen Roman spukte aber bereits ständig in meinem Kopf herum. Meine Vorstellungen waren vage, noch schwer formulierbar. Aber ich wusste, da ist etwas, und es drängt hinaus. Ich fragte Livia, ob sie es sich vorstellen könnte, mit einem Schriftsteller verheiratet zu sein. Sie freute sich über den Heiratsantrag, der sich ja mit meiner Frage verband. Dass das Leben mit einem Schriftsteller schwierig sein könnte - darüber hat sie, glaube ich, in diesem Moment nicht so genau nachgedacht.

A
n den Wochenenden zog es mich regelmäßig ans Meer. Nicht, dass ich ein eigenes Boot gehabt hätte, aber die Eltern eines Kommilitonen besaßen eines, und wir durften damit segeln. Ich machte meinen Segelschein, entdeckte meine Leidenschaft für das Wasser. Die Weite der Meere stellte eine ungeheure Faszination für mich dar. Ich glaube, damals wurde der Gedanke geboren, irgendwann einmal zu einer Weltumsegelung aufzubrechen. Später natürlich, viel später. Livia war davon nicht sehr begeistert. Ich nahm sie ein paar Mal mit auf das Schiff, aber sie konnte sich nicht recht für das Segeln erwärmen. Livia hatte schon immer ziemliche Angst vor dem Wasser.
Alle paar Wochen besuchten wir ihre Eltern, meine künftigen Schwiegereltern. In jener entsetzlichen Kleinstadt. Ich fuhr nicht gern dorthin, aber da es nicht allzu häufig geschah, war es okay. Immerhin kochte Livias Mutter sehr gut. Sie war nett, aber total angepasst an das Leben dort und völlig unterwürfig ihrem Mann gegenüber. Der saß nach einem Schlaganfall, den er in relativ jungen Jahren erlitten hatte, im Rollstuhl, war rundum pflegebedürftig, hing eigentlich völlig von der Gnade seiner Frau ab und schaffte es trotzdem, sie von morgens bis abends zu schikanieren und mit seinen bösen Launen und gehässigen Bemerkungen regelmäßig zum Weinen zu bringen. Er war unbeschreiblich geizig, obwohl er eine sehr gute Pension bekam. Beispielsweise durfte keine Putzfrau eingestellt werden, und seine gesundheitlich ebenfalls angeschlagene Frau musste das riesige, unpraktische Haus ganz allein in Ordnung halten. Im Winter froren wir alle, weil er verbot, die Heizungen ausreichend aufzudrehen. Er weigerte sich, Reparaturen an dem alten Kasten vornehmen zu lassen und zu bezahlen. Es zog wie verrückt durch die Fenster. Für ihn war das sicher auch ungemütlich, aber er hielt es aus, weil es ihn so tief befriedigte, uns leiden zu sehen. Meiner Meinung nach hasste er uns, weil wir nicht auch im Rollstuhl saßen. Wenn wir uns schon normal bewegen konnten, dann wollte er uns wenigstens das Leben schwer machen, wo er nur konnte.

I
ch beendete mein Studium, wir legten unseren Hochzeitstermin fest. Ich begann erste Notizen für meinen geplanten Roman zu machen. Nebenher jobbte ich hier und dort. Ich freute mich auf die Arbeit. Ein paar Figuren nahmen schon Gestalt an. Es drängte mich, anfangen zu können. Es war wie ein langer, langer Geburtsvorgang, den ich jedoch nicht als schmerzhaft, sondern als schön empfand.
Dann passierte die Katastrophe.
Knapp drei Wochen vor unserer Hochzeit starb Livias Mutter. Ohne jede Vorwarnung, von einer Minute auf die andere. Ein Herzinfarkt. Livias Vater rief an, um es uns mitzuteilen. Er erreichte mich, und selbst in diesem tragischen Moment hatte ich den Eindruck, dass es ihn mit einer gewissen Befriedigung erfüllte, dass sie zuerst gestorben war. Dass er, der Krüppel, nun länger durchhalten würde.
Klar, dass Livia gleich zu ihm reiste und sich um ihn kümmerte, der Alte konnte ohne fremde Hilfe ja nicht mal auf die Toilette. Er konnte sich kein Spiegelei braten, und angeblich bekam er mit seinen verkrüppelten Händen auch nicht die Kühlschranktür auf, um sich einen Joghurt herauszuholen. Für die kleinste Kleinigkeit brauchte er eine Bedienstete. Livia war vom ersten Moment an praktisch rund um die Uhr im Einsatz.

I
n den Wochen vor der Hochzeit sah ich sie nun gar nicht mehr. Ich reiste dann hinterher, wir heirateten standesamtlich mit zwei Nachbarn als Trauzeugen. Wir konnten danach nicht einmal essen gehen, weil Livia schnell wieder nach Hause zu dem bedauernswerten Pflegefall musste.
Mir war klar, dass sie nicht Knall auf Fall mit mir wieder abreisen konnte, aber ich dachte doch, dass wir nun gemeinsam ein geeignetes Pflegeheim suchen, den Alten dorthin schaffen, das Haus verkaufen oder vermieten würden. Tatsächlich führte Livia auch einige Telefonate mit Heimen, ließ sich Prospekte zuschicken, sah sich eines der Häuser auch persönlich anÉ aber irgendwie ging alles nicht voran, sie blieb in der Planung stecken, und irgendwann vertraute sie mir an, dass sich ihr Vater weigere, sein Haus zu verlassen, dass er auch nicht von einer fremden Person betreut werden wolle und dass sie, Livia, es nicht fertigbrächte, ihn gegen seinen Willen zu etwas zu zwingen, wogegen er sich derart heftig sträube.
Das warÕs dann. Damit waren im Prinzip die Würfel gefallen. Ich kapierte, dass Livia bleiben würde, dass sie ihre Rolle im Grunde schon akzeptiert hatte. Eigentlich war sie wie ihre Mutter. Das Wort eines Mannes ist ihr Befehl. Seltsam, dass es so etwas heute noch gibt, nicht? Aber vielleicht ist es nicht einmal so selten.

I
ch wollte mich nicht gleich nach der Hochzeit von ihr trennen. Ich redete mir ein, es sei schließlich ganz gleich, wo ich meinen Roman schriebe. Und natürlich hatte ich vor, darauf hinzuwirken, dass wir letztlich doch eine andere Lösung finden würden. Länger als ein Jahr, dachte ich, sind wir keinesfalls hier.
Es wurden zwölf Jahre. Zwölf Jahre, die vielleicht sehr schwer erklärbar sind. Es gab immer wieder Vorstöße in Richtung Heim. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 20.03.2007