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Es gab nichts weiter zu sagen, das wusste Liz. Die Menschen konnten mit ihr über das Karussell reden, ihre Versäumnisse relativieren und zurechtrücken. Aber niemand konnte ihr die Schuld nehmen, die sie auf sich geladen hatte, indem sie ihre Tochter zutiefst ablehnte. Indem sie sie nie, zu keinem Moment, als ein Geschenk, sondern immer nur als eine große Last begriffen hatte. Und irgendwie hing das alles zusammen. Liz hatte eine undeutliche Ahnung, dass sie sich wegen der ausgeschlagenen Karussellrundfahrt nicht so entsetzlich grämen würde, wäre sie ihrem Kind eine liebevolle und fürsorgliche Mutter gewesen. Das Karussell stand für alles, was zwischen ihr und Sarah nicht in Ordnung gewesen war.
Baker schließlich brach das Schweigen. Er hatte einen Job zu erledigen. Er musste vorwärts denken.
»Sie sagen, dass Sarah sehr heftig auf die Nichterfüllung ihres Wunsches nach einer Karussellfahrt reagiert hatte. War das auch für andere sichtbar?«
Seine Sachlichkeit half Liz, aus dem sie umfangenden Schmerz aufzutauchen und ihre Sprache wiederzufinden. »Ja, natürlich. Sie kämpfte ja regelrecht gegen mich. Ich musste sie etliche Meter mitschleifen.«
»Könnte es auch sein, dass jemand mitbekommen hat, worum es bei dieser Auseinandersetzung ging?«

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iz überlegte. »Ich glaube schon. Sie brüllte ja ziemlich laut, dass sie zu dem Karussell wollte, und ich brüllte schließlich ebenfalls ziemlich laut, dass das nicht in Frage kommt. Umstehende können das durchaus gehört haben.«
»Es wäre also denkbar«, meinte Baker, »dass jemand Zeuge des Konflikts wurde, Ihnen beiden dann gefolgt ist und bei sich bietender Gelegenheit - als Sie weggegangen waren, um die Sandwiches zu kaufen - die Kleine angesprochen und ihr eine Karussellfahrt angeboten hat. Ich vermute, Sarah wäre problemlos mit ihm mitgegangen?«
»Ganz sicher«, sagte Liz zutiefst überzeugt, »für eine Karussellfahrt wäre sie mit jedem gegangen. Ohne das geringste Zögern.«
»Hm«, machte Baker.
»Aber«, fuhr Liz fort, »woher sollte dieser Mensch denn wissen, dass er Sarah allein antreffen würde? Er konnte ja nicht ahnen, dass ichÉ dass ich sie so lange allein lassen würde.«
»Das konnte er natürlich nicht wissen. Aber diese Typen warten einfach auf eine Chance. Der Strand war sehr voll. Durchaus denkbar, dass sich eine Mutter und ihr Kind inmitten eines solchen Gedränges für ein paar Momente aus den Augen verlieren. Oder die Mutter schläft ein, das Kind spielt in einiger EntfernungÉ Ihm war wahrscheinlich klar, dass es blitzschnell gehen würde, dass Sarah sofort mitkommen und er mit ihr in der Menge verschwinden konnte. Er hatÕs einfach versucht. Und tatsächlich bot sich ihm dann ja auch die Chance.«
»Diese vierzig Minuten!«, rief Liz verzweifelt. »Diese furchtbaren vierzig Minuten! IchÉ«
»Quälen Sie sich nicht so«, sagte Baker. »Es ist kein Trost für das, was passiert ist, aber vielleicht mindert es ein wenig Ihre Selbstvorwürfe, wenn ich Ihnen sage, dass er es auch so mit einer ziemlich hohen Wahrscheinlichkeit geschafft hätte. Wenn der Ablauf so war, wie ich glaube, dann hatte er Ihre Tochter ins Visier genommen. Und es ist davon auszugehen, dass sich ihm irgendeine Möglichkeit geboten hätte. Bestimmt sind Sie für eine Weile weggedämmert. Mir geht das jedenfalls immer so, wenn ich in der Sonne liege.«

A
ber seine Kinder waren noch am Leben. Diesmal hatte Liz nicht das Gefühl, dass er aufrichtig war. Diesmal versuchte er sie zu trösten. Es gab Menschen, die ließen ihr vierjähriges Kind eben keinen Moment aus den Augen. Denen passierte so etwas nicht. Aber ihr war es passiert. Wegen ihres Leichtsinns, ihres Überdrusses, ihres Lebenshungers.
»Sie können sich nicht vielleicht erinnern, ob im Bus jemand saß, der Sie öfter angeschaut hat?«, fragte Baker. »Und der auch danach in Ihrer Nähe stand? Oder jemand, der an der Bushaltestelle war und den Sie irgendwann später in der Nähe Ihres Liegeplatzes noch einmal sahen? Ohne dass es Ihnen in diesem Moment seltsam vorgekommen wäre? Aber vielleicht im NachhineinÉ?« Er sah sie hoffnungsvoll an.

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ie zerbrach sich den Kopf, aber da war völlige Leere. Wenn sie an jenen furchtbaren Tag dachte, dann sah sie nur sich. Und ihre kleine Tochter. Und hörte die Musik aus dem sich drehenden Karussell. Alles andere war ein Meer aus Gesichtern, Stimmen, Körpern. Eine unüberschaubare Masse von Menschen. Sie schaffte es nicht, jemanden herauszukristallisieren.
»Nein«, sagte sie, »ich kann mich nicht erinnern. Mir ist niemand aufgefallen. Schon im Bus war ich so in meine Gedanken vertieft. Ich glaube, mich hätte jemand eine Stunde lang anstarren können, ich hätte es nicht bemerkt. Und auch späterÉ nein, da ist nichts. Absolut nichts.«

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aker war sichtlich enttäuscht. Er erhob sich. »Nun gut«, sagte er, »ich gebe Ihnen hier meine Karte. Falls Ihnen doch noch etwas einfällt, dann rufen Sie mich bitte gleich an. Egal, wie nichtig Ihnen vielleicht ein Gedanke vorkommt, haben Sie bitte keine Hemmungen. Alles kann wichtig sein. Wirklich alles.« Er reichte ihr seine Karte.
Jeffrey Baker, las Liz. Sie mochte ihn. Er hatte sie gut behandelt. Er war der erste Beamte, bei dem sie keine Verachtung gespürt hatte. Der erste, der ihr nichts vorwarf. Der erste, der nicht durchblicken ließ, was er von ihrem Verhalten als Mutter hielt: nämlich gar nichts.
»Ich melde mich«, versprach sie.

S
ie folgte ihm durch den kurzen Flur zur Wohnungstür. Durch die geöffnete Wohnzimmertür konnte man Betsys aufgedunsenen Körper im Sessel sehen. Inzwischen plärrten die Teilnehmer irgendeiner Vormittagstalkshow ihre peinlichen Offenbarungen ins Publikum.
An der Tür drehte sich Baker um.
Er lächelte sie an. »Das mit Spanien«, sagte er, »also, das mit Spanien, das finde ich eine sehr gute Idee.«


4
Er hatte auf der ganzen Fahrt noch fast kein Wort gesprochen. Am Vorabend hatte sich die Stimmung wieder entspannt; sie hatten dann doch eine Konserve aufgemacht, Kerzen angezündet und Musik gehört. Aber sie hatten nicht mehr miteinander geschlafen. Beide waren sie nicht mehr in der Stimmung dazu gewesen.
Morgens waren sie schon um sechs Uhr aufgebrochen, nachdem sie jeder eine Tasse Tee getrunken, aber ansonsten vor lauter Müdigkeit nichts zu sich genommen hatten. Virginia hatte Nathans Schweigen auf die frühe Tageszeit geschoben, darauf, dass er noch unausgeschlafen und nicht ganz wach war. Aber dann fuhren sie Meile um Meile, erst durch die Dunkelheit, dann in den erwachenden Morgen hinein, der sich jedoch grau und wolkenverhangen präsentierte und ihnen nicht mit dem kleinsten Sonnenstrahl entgegenkam. Und Nathan sagte immer noch nichts. Sie musterte ihn von der Seite, sein gut geschnittenes Profil, und sie hätte weinen mögen bei dem Gedanken an das Gefühl von Freiheit und Leichtigkeit, das sie noch vor wenigen Tagen erfüllt hatte, als sie die Fahrt in die umgekehrte Richtung antraten. Als die Landschaft immer weiter und offener und menschenleerer wurde und der Abstand zu Frederic immer größer. Jetzt fuhren sie in den dichter besiedelten Teil Englands hinein und wieder dorthin, wo die Probleme und Sorgen waren. Und noch dazu sprach er kein Wort. Bald würden sie die von Industriebauten durchsetzte Gegend um Leeds erreichen. Sie dachte an Dunvegan und an den vom Sturm leer gefegten, hohen, blauen Himmel vom Vortag und musste schlucken.
Wir bringen jetzt unsere Vergangenheit in Ordnung, dachte sie, und von da an wird alles besser werden.
Auf der Höhe von Carlisle hielt sie es nicht mehr aus.
»Nathan, was ist los? Du hast fast nichts gesprochen, seit wir losgefahren sind. Liegt es an mir? Hast du irgendein Problem mit mir?«
Er wandte ihr sein Gesicht zu. »Ich habe kein Problem mit dir«, sagte er.
»Was ist es dann? Du fährst ungern nach Norfolk zurück, das kann ich verstehen, aberÉ«

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r antwortete nicht sofort, erhöhte das Tempo des Wagens und steuerte gleich darauf auf einen Rastplatz, der bereits seit einer Weile immer wieder angekündigt worden war. Er hielt vor dem Gebäude, in dem man die Tankrechnung bezahlen und Kleinigkeiten kaufen konnte.
»Ich brauche einen Kaffee«, sagte er, nahm ein paar Münzen, die in der Ablage lagen, und stieg aus.
Fünf Minuten später erschien er mit zwei großen Deckelbechern aus Styropor. »Komm, wir setzen uns irgendwohin«, schlug er vor, und Virginia hatte plötzlich den Eindruck, dass er die Enge des Autos, das Eingesperrtsein nicht mehr ertrug.
Zum Glück regnete es nicht, und es war auch nicht allzu kalt. Sie setzten sich an einen Picknicktisch, der sich gleich neben einem kleinen Kinderspielplatz befand, und hielten ihre heißen Kaffeebecher umklammert.
»Ich habe nachgedacht«, sagte Nathan.
Virginia meinte für einen Moment, ihr Herz setze ein paar Schläge aus.
»Und?«, fragte sie beklommen.
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 19.03.2007