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Nein. Das hätte ich gemerkt.«
»Und wenn Sie noch einmal nachsehen? Das Haus ist ja ziemlich groß und vielleichtÉ« Grace ließ den Satz offen.
»Ich schaue nach«, versprach das Stimmchen, »ich rufe Sie gleich zurück.«
Grace diktierte ihr die Nummer und legte dann auf.
Lieber Gott, dachte sie. Ein siebenjähriges Kind, das ihr anvertraut war. Und sie legte sich einfach schlafen. Schlief so tief und fest, dass sie über Stunden nichts sah und hörte.
Wenn etwas passiert istÉ das verzeihe ich mir nie. Niemals.
Aber es musste nichts passiert sein. Warum sollte sie das Schlimmste denken? Das war Unsinn. Es lag am Fieber, dass sie kurz vor dem Durchdrehen stand.
Um irgendetwas zu tun, setzte Grace Teewasser auf. Als sie gerade einen Beutel Salbeitee in eine Tasse hängte, klingelte das Telefon.
»Livia Moor hier. Es tut mir leid, Mrs. Walker, ich habe im ganzen Haus nachgesehen. Kim ist nicht hier.«
Grace wurde innerlich ganz kalt. »Das kann nicht sein«, stieß sie hervor.
»Wirklich, ich habe in jeden Winkel geschaut«, beteuerte Livia.
Beide Frauen schwiegen.
»Es istÉ mir geht es nicht gut«, sagte Grace schließlich. »Ich habe hohes Fieber. Sonst hätte ich mich nie mitten am Tag hingelegt.«
»Vielleicht spielt sie im Park«, meinte Livia.
»Es ist aber schon dunkel.«
»Trotzdem. Sie hat die Zeit vergessenÉ«

G
race fühlte ein Würgen in ihrem Hals. »Ich darf mir nicht vorstellenÉ guter Gott, sie ist erst siebenÉ«
»Soll ich zu Ihnen hinüberkommen?«, fragte Livia. »Vielleicht kann ich irgendetwas für Sie tun?«
»Das wäre nett von Ihnen«, flüsterte Grace. Es war nicht so, dass sie ein großes Bedürfnis nach der Anwesenheit dieser Fremden verspürt hätte, aber sie meinte, jeden Moment den Verstand zu verlieren, und vielleicht half es ihr, wenn jemand da war, mit dem sie reden konnte. Und wenn es diese seltsame Person aus Deutschland war.
Jack. Ach, wäre doch Jack da!

S
ie beendeten das Gespräch. Grace goss das Wasser in ihre Tasse, dann wählte sie kurz entschlossen Jacks Nummer. Sein Handy war ausgeschaltet, aber es gelang ihr, ihn über sein Hotel in Plymouth zu erreichen.
»Wie geht es dir?«, fragte Jack sofort.
»Ach, nicht gut, gar nicht gut. Kim ist verschwunden.«
»Was?«
Jetzt konnte Grace die Tränen nicht länger zurückhalten. »Ich hatte mich hingelegt und habe ungefähr drei Stunden geschlafen. Kim wollte fernsehenÉ aber jetzt ist sie nicht da. Sie ist nirgendwo im Haus.«
»Vielleicht ist sie hinüberÉ«
»Nein. Da ist sie auch nicht.«
»Hör zu«, sagte Jack, »dreh jetzt nicht durch. Sie muss ja irgendwo sein.«
»Sie war so traurig«, weinte Grace, »weil ihre Mum heute am ersten Schultag nicht da ist. UndÉ und sie hatte sich darauf gefreut, mit mir zusammen die neuen Bücher einzubinden. Aber ich hatte vergessen, Papier zu kaufen. Sie war enttäuscht, undÉ«
»Was und?«, fragte Jack. Seine Stimme klang rauh. Grace spürte, dass er sich auch Sorgen machte, aber dass er es vor ihr nicht zeigen wollte.
»Vielleicht ist sie vor Enttäuschung und Kummer weggelaufen. Und dannÉ«
»Meine Güte«, sagte Jack.
»Und dann ist sie dem Kerl begegnet, derÉ«, fuhr Grace fort, obwohl Jack sowieso schon gewusst hatte, was ihr im Kopf herumging. Sie sprach nicht weiter.
»Unsinn«, sagte Jack ruppig. So kratzbürstig wurde er immer, wenn ihm etwas an die Nieren ging. »Grace, ich würde dir jetzt gern helfen, aber selbst wenn ich heute Nacht noch wie der Teufel zurückraseÉ«
»Tu das nicht. Du brauchst jetzt deinen Schlaf.«

I
ch weiß nicht, wie fit du bist. Aber vielleicht könntest du im Park nachsehen, trotz der Dunkelheit. Kim hat viele Verstecke dort. Wenn du eine Taschenlampe nimmstÉ«
Grace stöhnte leise. Im Grunde fühlte sie sich für eine Suchaktion in dem unwegsamen Gelände kaum in der Lage.
»Ich werde Livia bitten.«
»Wen?«
»Das istÉ ach, das ist zu kompliziert. JackÉ«
»Ja?«
»Ich habe Angst.«
»Unkraut vergeht nicht«, sagte Jack. »Ruf mich an, wennÕs was Neues gibt, ja?«
»Ja. Ja, natürlich.«
»Und, GraceÉ«
»Ja?«
»Ruf mich auch an, wenn es nichts Neues gibt«, sagte Jack. »Ich möchte einfachÉ ach, Scheiße! Ich wusste schon heute früh, dass ich nicht fahren sollte. Ich hatte ein blödes Gefühl. Ich höre sonst immer auf solche Gefühle. Warum diesmal nicht?«


8
Livia bot dreimal an, mit einer Taschenlampe durch den Park zu gehen und nach Kim zu rufen, und dreimal zog sie ihr Angebot wieder zurück.
»Ich weiß nichtÉ das Gelände ist riesengroß«, sagte sie ängstlich, »ich verlaufe mich am Ende und finde nicht zum Haus zurück!«
Inzwischen war es stockfinster draußen. Grace begriff, dass Livia viel zu viel Angst hatte, nachts durch einen riesigen, bewaldeten Park zu streifen, und dass sie es letztlich nie im Leben tun würde.
»Ich werde selbst gehen«, krächzte sie.
»Auf keinen Fall«, widersprach Livia. »Sie glühen ja vor Fieber! Sie holen sich eine Lungenentzündung.«
»Wir können doch aber nicht hier sitzen und nichts tun!«
»Vielleicht sollten wir die Polizei anrufen.«
»Unternehmen die so schnell schon etwas?«
»Nach allem, was warÉ vielleicht schon«, antwortete Livia leise. Im Krankenhaus hatte sie nichts vom Tagesgeschehen um sie herum mitbekommen, aber Frederic hatte ihr von den beiden Verbrechen erzählt.
»Wenn ich wenigstens einen Hund hätte«, fuhr sie fort, »dann würde ichÉ«
»Wir haben jetzt aber keinen Hund«, erwiderte Grace gereizt. Sie begriff, dass Livia zu den Menschen gehörte, die ewig lamentieren, aber nicht handeln, und dass von ihr im Grunde keine Hilfe zu erwarten war. Sie riss nur die Augen auf und machte einen spitzen Mund und hatte keine Ahnung, wie sie mit der Situation umgehen sollte. Fast fühlte Grace Verständnis für Livias Ehemann, der vor ihr geflüchtet war und sich einer anderen Frau zugewandt hatte. Aber nur fast. Dass es ihm möglicherweise gelang oder schon gelungen war, die Ehe von Frederic und Virginia Quentin zu zerstören, würde Grace ihm niemals verzeihen.
»Ich rufe jetzt die Polizei an«, sagte sie entschlossen. »Wir können nicht hier sitzen und die Zeit verstreichen lassen. Die müssen uns Leute schicken, die den Park durchsuchen.«

S
ie ging ins Wohnzimmer hinüber. Gerade als sie den Hörer abheben wollte, rief Livia, die in der Küche geblieben war: »Da kommt jemand!«
»Kim!«, krächzte Grace und lief in die Küche zurück.
Aber es war nicht das sehnlichst erwartete Kind. Es waren Virginia und Nathan.
Sie hatten anhalten und das Tor öffnen müssen, und Livia hatte das Scheinwerferlicht des Autos gesehen.
Grace riss die Haustür auf und stolperte in Bademantel und Pantoffeln hinaus auf die Auffahrt, um den Wagen zu stoppen. Nathan, der am Steuer saß, bremste scharf. Virginia sprang sofort hinaus, als sie die völlig aufgelöste Frau im Lichtkegel erblickte.
»Grace! Was ist passiert? Ist etwas mit Kim?«
Grace, die während der letzten Minuten ihre Fassung mühsam wiedergefunden hatte, brach nun erneut in Tränen aus. »Sie ist verschwunden«, schluchzte sie.
»Was heißt das?«, fragte Virginia schrill. »Was heißt verschwunden?«
Inzwischen stieg auch Nathan aus. »Beruhigen Sie sich«, sagte er zu Grace. »Kim ist verschwunden? Seit wann?«

Grace berichtete vom Ablauf des Nachmittags. »Ich konnte mich einfach nicht länger auf den Beinen halten«, weinte sie, »deshalb wollte ich mich kurz hinlegen. Ich wollte nicht einschlafen. Ich verstehe nicht, wieÉ«
»Niemand macht Ihnen einen Vorwurf«, sagte Nathan. »Sie sind krank, und Sie waren überfordert.«
Virginia biss sich auf die Lippen. »Wo ist denn Jack?«
»Der hat einen Transport nach Plymouth. Er konnte nicht absagen.«
»Wir müssen sofort die Polizei anrufen«, sagte Virginia voller Panik.
»Vielleicht hält sie sich irgendwo im Park verborgen«, sagte Grace, »sie baut sich doch andauernd Höhlen und Geheimgänge und solche Verstecke.«
»Aber weshalb sollte sie sich verstecken?«, fragte Virginia.
»Sie war sehr traurig und bedrückt heute«, sagte Grace. Sie wich Virginias Blick aus. »Es war doch der erste Schultag, und sie konnte nicht verstehen, weshalbÉ Nun, weshalb ihre Mutter nicht hier war. Und ich konnte mich auch nicht richtig um sie kümmern. Vielleicht wollte sie einfachÉ« Sie hob die Schultern. »Vielleicht wollte sie einfach weg!«
»O Gott«, flüsterte Virginia.
»Wir brauchen Taschenlampen«, sagte Nathan. »Was Grace sagt, klingt plausibel. Vielleicht hat sie sich wirklich versteckt und hat Angst vor dem Rückweg in der Dunkelheit. Wir sollten sofort das ganze Gelände durchstreifen.« (wird fortgesetzt)

Artikel vom 23.03.2007