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Denn genau das tat Janie. Sie hätte sonst nicht rechtzeitig bei dem Schreibwarenladen sein können. Der Sportunterricht dauerte am Montag jetzt immer von drei bis fünf Uhr. Im letzten Schuljahr war das anders gewesen, da waren sie am Montag immer schon um halb drei fertig gewesen. Am Morgen hatte Janie gar nicht daran gedacht, dass sich das ändern könnte. Als der neue Stundenplan diktiert wurde, war sie blass geworden vor Entsetzen. Und hatte ziemlich schnell beschlossen, dass es im Augenblick wichtigere Dinge in ihrem Leben gab. Eine gute, zuverlässige Schülerin konnte sie später immer noch sein.
»IchÉ gehe schon«, sagte sie hastig.
Die Dame sah sie eindringlich an. »Wenn es Probleme gibtÉ möchtest du, dass ich deine Mutter anrufe? Wenn du mir ihre NummerÉ«
Um Gottes willen, das wäre das Letzte, was sie gebrauchen konnte.
»Keine Probleme«, versicherte sie, »ich habe einfach die Zeit vergessen.«
Sie lächelte unsicher, überquerte dann die Straße, wobei sie den Schreibwarenladen fixierte. Es war die letzte GelegenheitÉ Aber nichts rührte sich, niemand betrat das Geschäft oder kam heraus. Es war ein völlig ereignisloser Montag.
Und Janie wusste, dass sie den Rest des Tages damit verbringen würde, ihre Einladungskarten, deren Einsatz immer unwahrscheinlicher wurde, anzusehen und dabei mit den Tränen zu kämpfen. Und sie würde darüber nachdenken, wie viel Ärger ihr das heutige Schwänzen einbringen würde.
Bis Mum davon erfuhr, sollte sie sich eine richtig gute Erklärung überlegt haben.


7
Um fünf Uhr holte Grace Kim von der Schule ab, und sie tat es mit der letzten Kraft, die sie noch aufbringen konnte. Sie spürte, dass das Fieber gestiegen war, aber sie wagte nicht, die Temperatur zu messen, weil sie Angst hatte, dass das Ergebnis sie erschrecken und noch mehr lähmen würde. Gegen drei Uhr hatte Jack angerufen. Die Verbindung war schlecht gewesen; sie hatte das gleichmäßige Brummen des Motors ziemlich laut und seine Stimme eher leise gehört.
»Wie gehtÕs?«, hatte er gefragt.
Ihr taten die Zähne weh und alle Knochen, aber sie hatte behauptet: »Gut. Na jaÉ den Umständen entsprechend.«
»Du hörst dich aber nicht gut an.«
»Wirklich, es geht schon.«
»Ich hätte nicht fahren sollen.«
»Doch. Es war mir wichtig, dass du fährst.«
»Hat sich Madame gemeldet?« Grace wusste gleich, dass er Mrs. Quentin meinte. Das Wort Madame klang abfällig, und so hatte er sie auch noch nie bezeichnet. Bei ihm hatte sie wohl für alle Zeiten verspielt.
»Nein. Ich habe nichts von ihr gehört.«

E
r murmelte etwas, das Grace geflissentlich überhörte. Nachdem er ihr aufgetragen hatte, sich zu schonen, beendeten sie das Gespräch, und Grace kroch in ihr Bett zurück. Ihr graute vor dem Moment, da sie aufstehen und sich auf den Weg zu Kims Schule machen musste. Ganz kurz spielte sie sogar mit dem Gedanken, sich an Livia Moor zu wenden, die offenbar für einige Zeit drüben im Haupthaus wohnte. Über ihre Anwesenheit hatte Frederic Grace informiert, aber wer genau sie war und weshalb sie hier Unterschlupf gesucht hatte, blieb ein wenig unklar. Grace hatte sich jedoch zusammengereimt, dass sie irgendetwas mit dem Mann zu tun hatte, mit dem Virginia Quentin durchgebrannt war. Ihr war das zu suspekt. Dieser Person hätte sie ihren kleinen Liebling nicht anvertraut. Irgendwie schaffte sie es, mit dem Auto bis zur Schule und wieder zurück zu kommen. Kim erzählte ohne Punkt und Komma, aufgeregt und überdreht. Sie hatte zwei neue Mitschüler bekommen, neue Lehrer, ein neues Klassenzimmer. Ihre Traurigkeit vom frühen Morgen war verflogen. Grace fürchtete aber, dass sie am Abend wieder unglücklich sein würde. Alles das, was sie Grace erzählte, hätte sie zu gern auch ihrer Mummie berichtet.
Wenn ich nicht so krank wäre, würde ich mich richtig über sie ärgern, dachte Grace.
Daheim kochte sie einen Kakao für Kim und stellte ihr einen Teller mit Keksen hin, aber dann merkte sie, dass sie wieder ins Bett musste. Sie hatte weiche Knie und fror so, dass ihre Zähne aufeinanderschlugen.
»Kim, mein Schatz«, sagte sie mühsam, »ich muss mich ein wenig hinlegen. Es tut mir leid, aber mir geht es gar nicht gut. Du kannst ein bisschen fernsehen, wenn du möchtest, ja?«
»Wir müssen meine neuen Bücher einbinden«, sagte Kim.
»Wir hätten Papier kaufen sollen«, stellte Grace schuldbewusst fest. »Wir werden das morgen tun, ja? Wenn dich morgen jemand schimpft, dann sagst du, dass ich so krank war, aber dass ich mich darum kümmern werde.«

K
im machte ein betrübtes Gesicht. Sie hätte gern die Bücher in schönes, neues Papier gewickelt, ihre Hefte beschriftet, ihre Stifte gespitzt. Das alles an Graces großem Küchentisch, gemütlich unter der hellen Lampe.
»Wann kommt Mummie?«, fragte sie.
Grace seufzte. »Ich weiß es nicht. Und nun, bitte, sei lieb. Ich brauche ein, zwei Stunden Schlaf, dann geht es mir besser.«
So würde es nicht sein, das wusste sie: Ihr stand eine schaurige Nacht bevor. Sie kroch in ihr Bett, rollte sich wie ein Embryo zusammen, zog ihre Knie bis fast ans Kinn. Sie konnte nicht aufhören zu frieren.
Vielleicht sollte ich doch einen Arzt anrufen, dachte sie, aber über diesem Gedanken schlief sie schon ein.
Als sie aufwachte, war es draußen dunkel. Im Zimmer brannte eine Stehlampe in der Ecke. Wind war aufgekommen und bewegte die Zweige der Bäume; Grace konnte die tanzenden Schatten der Blätter an den Wänden sehen.
Sie richtete sich langsam auf. Ihr Kopf schmerzte, jeder Knochen im Körper tat ihr weh, aber sie fühlte sich ein wenig kräftiger als am Nachmittag. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihr, dass es fast acht war. Längst an der Zeit, dass Kim ihr Abendessen bekam. Wie rührend von der Kleinen, dass sie sich so ruhig verhalten und ihren, Graces, Schlaf nicht gestört hatte.

G
race kletterte aus dem Bett. Als sie sich aufrichtete, drehte sich das Zimmer für einen Moment vor ihren Augen, und sie musste sich kurz am Nachttisch abstützen. Aber dann wurde ihr Blick klarer. Sie schlüpfte in ihre warmen Pantoffeln, zog ihren Morgenmantel über und schlurfte in die Küche.
Da war niemand. Nur die Katze lag in ihrem Körbchen und schlief. Auf dem Tisch standen der leere Becher, in dem sich der Kakao für Kim befunden hatte, daneben der Teller, auf dem die Kekse gewesen waren. Alles ausgetrunken, alles aufgegessen. Die Küchenuhr tickte gleichmäßig.
Grace ging ins Wohnzimmer hinüber in der Erwartung, Kim vor dem Fernseher zu finden. Aber das Zimmer war dunkel, der Fernseher ausgeschaltet. Grace runzelte die Stirn. War Kim etwa schon ins Bett gegangen?
Es gab eine kleine Kammer neben dem Bad, die den Walkers als Gästezimmer diente. Von wachsender Unruhe geplagt, schaute Grace hinein: Die Kammer war leer. Das Bett unbenutzt.
»Das gibt es doch nicht«, murmelte sie.

D
as Bad war leer. Die Speisekammer war leer. Selbst in den Keller tappte Grace hinunter, schaute in die Waschküche und in den Vorratsraum. Nichts. Keine Spur von einem kleinen Mädchen.
Sie griff sich an den Kopf. Spielte ihr das Fieber einen Streich? Hatte Kim angekündigt, irgendwo hin gehen zu wollen, und hatte sie es unter dem seltsamen Schleier, der sie umgab, nicht wahrgenommen? Aber derart benommen war sie nicht, wirklich nicht. Sie erinnerte sich, dass Kim ihre neuen Bücher hatte einbinden wollen. War sie hinübergegangen in das Haus ihrer Eltern, um nach Papier zu suchen?

B
leib ganz ruhig, ermahnte sie sich, aber ihr Herz raste dennoch wie irr. Es muss gar nichts passiert sein. Bevor dieseÉ diese Morde an den zwei kleinen Mädchen in KingÕs Lynn geschahen, hätte dich das gar nicht besonders aufgeregt. Da war Kim immer irgendwo auf dem großen Grundstück unterwegs, und kein Mensch hat sich Gedanken gemacht.
Aber diese Morde waren eben geschehen. Die Idylle war keine Idylle mehr.
Mit zitternden Fingern wählte Grace die Nummer vom Haupthaus. Nach endlosem Klingeln wurde schließlich abgenommen, und eine zarte Stimme hauchte: »Hallo?«
»Grace Walker hier«, krächzte Grace, »ich bin die Frau des Verwalters hier von Ferndale. Ist Kim drüben bei Ihnen?«
»Wer spricht dort?«, fragte das Stimmchen.
Grace hätte das begriffsstutzige Wesen durch das Telefon hindurch schütteln mögen. »Ich bin Grace Walker. Die Frau von Jack Walker, dem Verwalter. Wir wohnen in dem kleinen Pförtnerhaus ganz unten an der AuffahrtÉ«
»Ach so, ja«, sagte das Stimmchen.
»Kim wohnt doch zur Zeit bei uns. Ich habe ein paar Stunden geschlafen, weil ich ziemlich erkältet bin. Nun kann ich sie nirgends finden. Ich dachte, sie ist vielleicht drüben?« (wird fortgesetzt)

Artikel vom 22.03.2007