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Virginia hakte nach. »Du magst Nathan doch, oder?«
»Er ist nett«, sagte Kim.
»Vielleicht holt er dich ab und geht mit dir irgendwo eine

Schokolade trinken. Wie fändest du das?« »Schön«, sagte Kim, aber sie klang nicht wirklich begeistert. Virginia sah sie an. »Mein Kleines, ichÉ ich gehe nie wie
der von dir weg. Das verspreche ich dir.« Kim nickte. »Und Daddy?« »Daddy muss manchmal nach London, das weißt du ja.« »Aber er kommt dann immer wieder zu uns zurück?«, ver
gewisserte sich Kim. »Du verlierst ihn nicht«, sagte Virginia, und dann schaute sie rasch zur Seite, weil ihr die Tränen in die Augen schossen. Gott verzeihe mir, murmelte sie lautlos.


3
S
ie ist weg, und sie hat mein Geld genommen«, sagte Nathan. Er sah wütend aus, blass unter seiner Bräune. »Ich meine, das Geld, das du mir geliehen hast. Sie hat zehn Pfund zurückgelassen, aber mit dem Rest ist sie verschwunden.«
Virginia stand am Fuß der Treppe und starrte hinauf. »Livia ist weg?« »Ihre Kleider - deine Kleider - hat sie auch mitgenommen.
Sieht nach einer Abreise aus.« »Die Kleider hatte ich ihr geschenkt. Das ist in Ordnung.« Nathan kam die Stufen hinunter. »Ich vermute, sie versucht nach Deutschland zu reisen.« »Ist das so seltsam?«, fragte Virginia. »Nach allem, was war? Ich verstehe, dass sie es hier nicht mehr aushält.« »Ich stehe mit zehn Pfund da!« »Nathan, das ist doch kein Problem! Du kannst jederzeit
wieder Geld von mir haben.« »Ich hatte gehofft, nichts mehr zu brauchen«, sagte er zornig. »Ich meine, es war ohnehin dein Geld, aber ich hoffte, dass es dabei nun bleibt! Kannst du dir vorstellen, wieÉ«
Er sprach nicht weiter, und sie legte ihm sanft die Hand auf den Arm. »NathanÉ zwischen uns sollte das kein Thema sein.«
»Für mich ist es ein Thema. Ich bin dreiundvierzig Jahre alt. Ich stehe mit nichts in den Händen da, mit überhaupt nichts! Ich schnorre mich bei der Frau durch, die ich liebe. Verdammt, kannst du dir vorstellen, wie scheußlich ich mich dabei fühle?«
»Ich kann es mir vorstellen«, sagte Virginia.

E
r war unten angelangt, strich sich die Haare aus der Stirn. Seine Bewegung war eher müde als wütend. »Wenn ich nur einen Weg sehen könnte! Ich weiß, dass ich schreiben werde. Ich weiß, dass ich Erfolg haben werde. Aber das ist nichts, was schnell gehen wird.«
»Aber irgendwann bist du am Ziel. Lass dir doch bis dahin von mir helfen.«
»Mir bleibt kaum etwas anderes übrig«, sagte Nathan. Virginia stellte erstaunt fest, dass er wirklich elend aussah. Offenbar hatte er tatsächlich vorgehabt, sie nicht um weiteres Geld zu bitten, wobei sie nicht wusste, wie er das hätte durchhalten wollen. Die Tatsache, dass Livia seine magere Barschaft hatte mitgehen lassen, schien ihn in eine echte Krise zu stürzen.
»Mir bleibt nichts anderes übrig«, wiederholte Nathan, »weil ich ja von irgendetwas leben muss. Und ich werde zunächst kaum hier in Ferndale bleiben können, so wie es aussieht.«
Sie sah ihn an. »Wieso?«, fragte sie begriffsstutzig.

E
r lächelte, aber er wirkte nicht glücklich dabei. »Süße, dein Mann kommt heute. Schon vergessen? Ich meine, ich habe ja nichts gegen ihn, aber glaubst du, er kann wirklich gelassen damit umgehen, wenn ich im Wohnzimmer sitze und ihm einen Drink anbiete, sobald er hereinkommt?«
Sie wunderte sich, dass sie bislang nicht über das Problem nachgedacht hatte, wie sich ein Zusammentreffen zwischen Nathan und Frederic vermeiden ließe. Sie war wohl zu sehr in
die Aufregung um Kim verstrickt gewesen.
»Das stimmt«, sagte sie, »du solltest besser nicht hier sein.«
»Ich werde mir irgendwo ein Bed & Breakfast suchen und mich dort einmieten. Ich müsste dich nur leider bittenÉ«
»Kein Problem. Ich bezahle das.«
»Du bekommst jeden Penny zurück. Das schwöre ich dir.«
»Wenn es dir damit besser gehtÉ«
»Anders könnte ich es nicht ertragen«, betonte er.
Unschlüssig standen sie voreinander. »Ich weiß nicht, wie ich die nächsten Nächte ohne dich aushalten soll«, sagte Virginia leise.
»Wir haben noch unser ganzes Leben«, erwiderte er ebenso leise.

I
n schneller Folge zogen Bilder wie Momentaufnahmen vor Virginias innerem Auge vorüber: ein kleines Haus auf dem Land. Ein sonnendurchfluteter Garten. Sie und Nathan am Küchentisch, Becher mit starkem, schwarzem Kaffee vor sich. Sie diskutierten über sein neuestes Buch, leidenschaftlich, tief versunken, jenseits der Welt und doch nicht einsam, weil sie zusammen waren. Gemeinsame Nächte, ineinander verschlungen, einer den anderen spürend und atmend. Ein Glas Wein bei Sonnenuntergang. Stunden vor dem Kaminfeuer, während draußen Schneeflocken fielen und die Welt in vollkommene Schweigsamkeit hüllten. Spaziergänge, Hand in Hand, lachend und redend, oder in tiefer Übereinstimmung schweigend. Partys, Menschen, Musik, wortlose Verständigung mit den Augen.
Glück, Glück, Glück.
Sie würde es wiederfinden. Sie konnte seine Nähe schon spüren. Es war zum Greifen nah. Es stand bereits vor ihr, so dicht, dass es ihren Herzschlag zu beschleunigen vermochte.

N
athans Lippen waren in ihrem Haar. »Ich gehe dann jetzt«, sagte er.
»Jetzt schon? Frederic kommt erst am späten Nachmittag.«
»Trotzdem. Ich muss ein bisschen für mich sein. Vielleicht fahre ich ans Meer. Es ist so viel geschehen.«
»Du kannst mein Auto haben. Ich nehme dann das von Frederic.«
Er ballte die Hände zu Fäusten. »Eines Tages«, sagte er, »werde ich nicht mehr abhängig sein. Alles wird anders werden.«
»Natürlich.« Mach dich doch nicht so fertig deswegen, dachte sie.
Sie drückte ihm ihren Autoschlüssel in die Hand, kramte in ihrer Handtasche nach ein paar Geldscheinen. Dann fiel ihr noch etwas ein.
»Könntest du um fünf Uhr Kim von der Schule abholen? Grace ist, fürchte ich, noch zu krank, und Jack wird wohl noch nicht zurück sein. Ich beschreibe dir den Weg.«
»Kann ich machen. Klar.«
»Setze sie bei Grace ab. Ich will Frederic am Zug abholen und dann irgendwo mit ihm reden.«
»Ich hole Kim rechtzeitig ab. Keine Sorge.«

S
ie nickte. Sie klammerte sich an den Worten Keine Sorge förmlich fest. Ein schwerer Tag lag vor ihnen. Schwere Wochen. Eine schwere Zeit.
»Nathan«, sagte sie, »wir schaffen das. Ganz sicher.«
Er lächelte erneut. Diesmal nicht bitter, sondern zärtlich.
»Ich liebe dich«, sagte er.


4
Grace fühlte sich nicht gesund, aber es ging ihr ein bisschen besser. Sie hatte den ganzen Tag im Bett gelegen, war nur gelegentlich aufgestanden, um zur Toilette zu gehen oder sich einen frischen Tee zu machen. Sie war noch recht wackelig auf den Beinen, aber nicht mehr so schwindelig wie am Tag zuvor.
Und auch ihre Knochen schmerzten schon weniger. Das Schlimmste hatte sie überstanden.
Jack hatte zweimal angerufen und gesagt, er werde bis zum frühen Abend zurück sein. Selten hatte sie ihm so entgegengefiebert. Er war ein ruppiger Mensch, aber er konnte recht fürsorglich sein, wenn es anderen schlecht ging. Sicher würde er ihr etwas Schönes kochen und ihr den Fernseher ins Schlafzimmer tragen, dann konnte sie gemütlich im Bett liegen und sich den Liebesfilm ansehen, der an diesem Abend gezeigt werden sollte.

S
ie war so froh und erleichtert, dass Kim noch in der Nacht wohlbehalten in die Arme ihrer Mutter zurückgekehrt war. Sie hätte es sich nie verziehen, wenn dem Kind etwas zugestoßen wäre, nur weil sie eingeschlafen war, anstatt auf sie aufzupassen. Aber trotz ihrer Grippe und ihrer fast lähmenden Angst um Kim war ihr die Brisanz des Moments noch durchaus bewusst gewesen. Dass zwischen Virginia Quentin und dem gut aussehenden Deutschen etwas lief, war so spürbar, dass die beiden ihre Gefühle füreinander auch in roter Leuchtschrift auf ein Transparent hätten schreiben und vor sich hertragen können. Livia Moor hatte ein Gesicht gemacht, als werde sie jeden Moment in Ohnmacht fallen. Schneeweiß war sie gewesen, und ihre Lippen hatten gezittert.

A
ber sie hatte auch Angst vor ihrem Mann, das hatte Grace begriffen. Obwohl er sie so offensichtlich betrog, wagte sie es nicht, ihm eine Szene zu machen. Er hatte ihr einen Blick zugeworfen, der sie verstummen ließ. Er behandelte sie wie ein Stück Dreck, voller Verachtung und ohne die geringste Rücksicht auf ihre Gefühle. Grace fragte sich, weshalb sich Virginia Quentin mit einem Mann einließ, der eine andere Frau so offenkundig schlecht behandelte. Merkte sie das nicht? Oder glaubte sie, Nathan Moor sei mit ihr zusammen ein neuer Mensch? (wird fortgesetzt)

Artikel vom 28.03.2007